Krokodil im Nacken
die drei Brüder, während die beiden Frauen aus Sorge vor Einbrechern im Hinterzimmer der Gaststätte ihre Betten aufgestellt hatten. Oft war Manni ganz allein da oben. Dann stand er im Herbst oder Winter, wenn es früh dunkel wurde, auf dem kleinen Balkon und genoss die geheimnisvolle Welt um sich herum. Blickte er nach rechts, konnte er die erleuchtete Straßenbahn durch die Prenzlauer Allee fahren sehen, blickte er nach links, sah er die bläulich funzelnden Gaslaternen der Raumerstraße immer kleiner werden, bis sie in Höhe des Helmholtzplatzes nur noch Glühwürmchen waren. Im Winter wurde er dabei manchmal zum Eiszapfen, weil er so lange auf den Laternenanzünder gewartet hatte, der mit dem Fahrrad herangefahren kam, um mit seiner langen Hakenstange den Leuchtstrumpf im Laternenhäuschen zum Brennen zu bringen. Lag dann Schnee, glänzte der unter dem Lichtschein der Laternen bläulich; das gab der ganzen Straße etwas Verzaubertes. In solchen Momenten konnte Manni sich überhaupt nicht von der Stelle rühren, dann lauschte er auf das Knirschen des Schnees unter den Schritten der Passanten, beobachtete, wie die Liebespaare unter den Laternen mit den Füßen trampelten, sah Leute nach Hause kommen oder fortgehen und war froh, dass er irgendwie dazugehörte.
Seine zweite eigene Welt war sein »Amerika«. So hatte er die schmale Gerümpelkammer im langen Flur zwischen Gaststätte und Küche getauft. Zwischen der Herren- und der Damentoilette lag sie, war voll gestellt mit all dem Zeug, das niemand mehr brauchte, das man aber auch nicht wegwerfen wollte, und er konnte sie von innen abschließen. Ein Billardtisch, der früher mal im Hinterzimmer seinen Platz hatte, befand sich darin – seitlich hochgekippt und an die Wand gerückt, ragten seine vier Beine weit in den engen Raum –, alte Schränke, Kisten, Kartons, Teppiche und Lampen. Darunter eine reich verzierte Petroleumlampe aus grüner Keramik, sehr groß und irgendwie märchenhaft in ihrem Aussehen, die er aber nie anzünden durfte.
In seinem Amerika konnte er herrlich tagträumen, in Wunderwelten entfliehen, Abenteuer bestehen und Sieger bleiben. Hier redete ihm keine Realität hinein, gab es keine zerstörten Häuser, im Krieg gebliebene Väter und keine Gäste, die ihm die Mutter nahmen; hier war die Welt, wie er sie sich wünschte.
Mannis dritte eigene Welt war Paulchens Opa. Das kleine, rotbäckige Paulchen mit dem Struwwelkopf, ein Jahr jünger als Manni, wohnte gleich über der Bäckerei Lörke. Seine Eltern waren im Krieg umgekommen, deshalb wuchs er bei seinen Großeltern auf. Paulchens Opa aber, ein schon sehr alter, kleiner Mann mit frischer, ebenfalls rötlich brauner Hautfarbe, arbeitete als Kutscher. Mit zwei Pferden vor seinem Transportwagen kutschierte er Schotter, Schutt und andere Lasten durch die Stadt und ließ Paulchen manchmal mitfahren. War es mal wieder so weit, durfte auch Manni zusteigen, zur Probe die Peitsche schwingen oder an der Bremskurbel drehen und am Abend, wenn sie im Stall an der Stargarder Straße angelangt waren, Liese und Lotte die Futterkisten bringen.
Besonders spannend war es, wenn Laubenpieper dem Fuhrwerk nachliefen; immer in der Hoffnung, dass eines von den beiden Pferden mal den Schweif hob, um ein paar Äpfel aufs Straßenpflaster fallen zu lassen. War es passiert, stürzten sie sich drauf, mit Müllschippe und Eimer. Manche griffen auch, um schneller als die anderen zu sein, mit bloßen Händen zu, und öfter gab es Streit, der bis zur Prügelei ausartete. Dann schmunzelte Paulchens Opa, bis er selber wie ein Pferdeapfel aussah, und murrte vergnügt: »Eijentlich jehören de Äppel ja der Firma.«
Nein, von Mannis eigenen Welten wusste der Rest der Familie nichts. Und das war gut so. Die anderen hatten ja auch ihre Geheimnisse.
In den Märchen, die Robert Manni manchmal vorlas, ging es oft um drei Brüder. Und fast immer wurden die beiden großen Brüder als klug und stark beschrieben, und der jüngste war ein kleiner Dummer, der aber trotzdem das Glück auf seiner Seite hatte. Manni war von Anfang an überzeugt davon, der Dümmste aller kleinen Dummen zu sein und die herrlichsten großen, starken, klugen Brüder zu haben. Ob er aber auch so viel Glück wie die kleinen Dummen im Märchen haben würde, die ja, wie er schon bald erkannte, in Wahrheit gar nicht dumm, sondern auf eine andere Weise sogar noch klüger als ihre älteren Brüder waren? Das bezweifelte er, der sich manchmal recht ungeschickt
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