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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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hatte. »Wer nicht Mutter ist, wird nicht Großmutter«, sagte sie streng und fügte jedes Mal wie zur Entschuldigung hinzu, dass sie ja Verständnis dafür habe, dass das junge, hilflose, streng katholisch erzogene Ding ihr Kind damals weggegeben hatte. »Als Dienstmädchen mit unehelichem Kind hätte sie ja nie wieder eine Stellung bekommen.« Dass jene Martha sich aber auch später, als sie längst verheiratet war und zwei Töchter hatte, nicht um ihren Sohn gekümmert hatte, konnte sie ihr nicht verzeihen. »So etwas tut man nicht. Da lässt man sich auch von seinem Mann nicht dreinreden. Das ist schlimmer als Mord.«
    Nachdem der Vater das letzte Mal Fronturlaub bekommen hatte, galt er lange nur als vermisst. Nach dem Krieg aber hätte die Mutter gern Gewissheit gehabt, ob er noch lebte. Das sprach sich herum und so tauchte eines Tages eine »Pendlerin« im Ersten Ehestandsschoppen auf. Für ein paar Mark banden diese »weisen Frauen« den Ehering der noch unsicheren Kriegerwitwen an einen Faden und ließen ihn über einem Foto des Vermissten schweben. Bewegte der Ring sich, durfte man hoffen. Die Mutter hielt von diesem Humbug nichts und schob die düster wirkende Frau, als die einfach nicht gehen wollte, am Ende zur Tür hinaus. Ihrer Meinung nach bewegte der Ring sich zu oft; erleichterte Frauen seien nun mal großzügiger als niedergedrückte.
    Die von der Mutter gewünschte Gewissheit erlangten sie erst im Frühsommer 1949, an einem sehr sonnigen Tag. Manni, noch keine sechs Jahre alt, saß auf seinem Lieblingsplatz, der steinernen Stufe vor der Ladentür, und beobachtete gerade die Straßenbahnschienen. Er hatte ein Steinchen auf die Schienen gelegt und wartete darauf, dass die nächste Straßenbahn darüber hinwegrumpelte. Wenn er Glück hatte, würde sie entgleisen. Der Mann, der da auf ihn zukam, ging an Krücken; unter dem graugrünen Soldatenmantel war ein Holzbein zu sehen. Er blickte Manni nur kurz an, dann hinkte er zur Mutter hinein.
    Später wurde Manni hinzugerufen und erfuhr, dass dieser Mann, ein Kriegskamerad des Vaters, dabei gewesen war, als der Vater fiel. Mit großen Augen sah er zu, wie genüsslich dieser graugesichtige Mann das Bier trank, das die Mutter ihm hingestellt, und wie vorsichtig er an der Zigarre zog, die sie ihm dazugelegt hatte. Die Mutter zerknüllte währenddessen ein Taschentuch in ihren Händen und ließ sich Geschichten vom Vater erzählen – was für ein toller Kamerad er gewesen war, wie oft er von ihr und seinem Sohn gesprochen und wie sehr er den Krieg gehasst hatte. Sie weinte erst, als der Mann mit dem Holzbein gegangen war. Und er, Manni, weinte dann auch. Das Gefühl, etwas Großes verloren zu haben, bewegte ihn, wenn er auch noch nicht so ganz genau wusste, was diese Nachricht für ihn bedeutete. Seither aber versuchte er öfter, sich seinen Vater vorzustellen, und irgendwann gelang ihm das auch.
    Einmal war es ein schöner Traum. Da stand eines Nachts ein großer Mann im Soldatenmantel vor seinem Bett und lachte. »Ich bin dein Vater«, sagte der Mann. »Ich bin gar nicht tot.« Das zweite Mal war es eine Erzählung der Mutter, die er vor sich sah. Da lag der Vater während seines letzten Fronturlaubs mit seinem erst drei Monate alten Sohn auf der Couch und der griff mit seinen Babyhändchen nach den glänzenden Knöpfen der Uniformjacke. Der Vater warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf und er kreischte jedes Mal vor Begeisterung. Das dritte Mal begegnete ihm der Vater wieder in einem Traum, diesmal jedoch in einem, der Manni sehr erschreckte: Da standen der Vater und zwei andere Fahnenflüchtige in einer weiten, grauen Ebene, ein Offizier befahl seinen Soldaten zu feuern und heiß drang die Kugel in sein, Mannis, Herz. Er schreckte auf, alles an ihm flog und zitterte und er konnte sich lange nicht beruhigen. Der Traum war wie Wirklichkeit gewesen; er hatte die Kugel tatsächlich gespürt.
    Zu dieser Zeit war er schon zehn oder elf Jahre alt und vielleicht hatte irgendein Kinofilm dermaßen in ihm nachgewirkt. Der Vater konnte nicht so ums Leben gekommen sein, er war ja nicht geflohen, sondern in einem Ort namens Kriwyje Osecki, etwa dreißig Kilometer nordwestlich der Stadt Newel gefallen und noch nach seinem Tod zum Obergefreiten befördert worden; Deserteure hätte man doch nicht noch ausgezeichnet.
    Nachdem der Mann mit dem Holzbein bei der Mutter gewesen war, konnte sie den Vater für tot erklären lassen, und nun fragten sich nicht nur die

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