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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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wieder.«
    Die Mutter hatte schon oft über Wolfies Fußballspielerei geschimpft – die Schuhe gingen dauernd kaputt, Sport sei Mord und immer so weiter –, Manni konnte den großen Bruder gut verstehen, doch war ihm nicht wohl bei dem Gedanken, was da von ihm verlangt wurde.
    »Wenn du Mutter auch nur ein Sterbenswörtchen sagst, nehme ich dich nie wieder mit«, drohte der Bruder. »Da kannste betteln, biste schwarz wirst.« Und er musste ihm schwören, den Mund zu halten. Großes chinesisches Paprikaschoten-Ehrenwort, eine von Wolfgang erfundene, Manni seit jeher sehr beeindruckende Formel. Klar, dass er gehorchte! Was Wolfie befahl, galt mehr als alle zehn Gebote zusammen. Aber dass es dem Bruder von Minute zu Minute schlechter ging, konnten sie der Mutter nicht verbergen. Sie machte sich Sorgen, ein Arzt wurde geholt. Er erfuhr von den harten Erbsen und glaubte Bescheid zu wissen: »Eine Verstopfung! Da hilft nur Rizinusöl.«
    Doch das eklige Zeug half nicht, im Gegenteil, die Schmerzen wurden schlimmer und so mussten sie zwei Tage später mit der Wahrheit herausrücken. Ein Taxi wurde gerufen und die Mutter brachte den Bruder nach Weißensee, ins Krankenhaus. Dort arbeitete Dr. Kruse, ein Freund von Tante Grit und Onkel Karl, der wollte ihn mal gründlich untersuchen.
    Als das Taxi abfuhr, stand Manni auf dem Balkon im ersten Stock und winkte dem Bruder nach; Wolfgang, auf dem Rücksitz des schwarzen Autos, winkte durch die Heckscheibe noch lange zu ihm hoch.
    Am Freitag darauf wurde der Bruder operiert; Sonntagabend erfuhren sie von seinem Tod. Manni wollte den Erwachsenen zunächst nicht glauben. Am Nachmittag hatten die Mutter und er Wolfie doch noch besucht und er hatte dem Bruder die Fußballresultate mitgebracht – und jetzt sollte er tot sein wie der dicke Georg im Eisbärenfell und nie wieder zu ihm zurückkehren? So etwas durfte es doch gar nicht geben! Die Mutter, Tante Grit und Tante Lucie, die extra gekommen war, um der Mutter beizustehen, weinten aber so sehr, dass er ihnen endlich glauben musste. Er begann zu toben und um sich zu schlagen und Tante Lucie musste ihm Beruhigungstropfen geben. Er solle jetzt schlafen, sagte sie, Wolfgang gehe es doch gut, dort, wo er jetzt war.
    So dumm aber war er nicht mehr. Weshalb weinten die drei Frauen denn, wenn es Wolfie im Himmel besser ging als auf der Erde? Und selbst wenn es stimmte, der Bruder hätte trotzdem nicht in den Himmel gewollt, er wollte Fußball spielen und sich mit seiner Freundin Moni treffen … Manni heulte weiter, bekam Fieber, musste tagelang im Bett bleiben und starrte, wenn er wach wurde, unentwegt zur Zimmerdecke hoch.
    So erfuhr er eines Tages, als die Erwachsenen glaubten, er schlafe, was über Wolfgangs Tod erzählt wurde. Die harten Erbsen, hörte er sie reden, hätten Wolfies Magenwand so sehr gespannt, dass sein Magen durch den Aufprall des scharf getretenen Balls einen Riss bekam. Wäre der Bruder gleich nach dem Unfall ins Krankenhaus gebracht worden, hätte man ihn noch retten können; nach den zwei Tagen Rizinusöl sei es für alles zu spät gewesen, der Mageninhalt sei in die Blutbahn gedrungen und habe den Bruder vergiftet.
    Er musste sich auf die Lippen beißen, um sich nicht zu verraten. Also war er, ganz allein er, schuld an Wolfies Tod? Hätte er nicht den Mund gehalten, würde der Bruder jetzt noch leben … Erst Jahre später, als er schon fast erwachsen war, erfuhr er, dass es so nicht gewesen sein konnte; Magenwände waren wie aus Gummi, die rissen nicht. Es musste sich bei dem Unfall des Bruders um einen Milzabriss gehandelt haben, der innere Blutungen zur Folge hatte; eine Verletzung, die nur sehr schwer zu erkennen und noch schwerer zu behandeln war.
    Der siebenjährige Manni wusste das noch nicht. Die schlimmen Schuldgefühle setzten ihm zu, das Fieber wurde stärker, und eines sonnigen Nachmittags sah er den Bruder auf einer Wolke sitzen und mit einem Spiegel Signale geben; so wie Wolfie und sein Freund Hotte sich oft quer über den Hof Botschaften zugemorst hatten. Der Bruder wollte, dass er ihn auf dem Friedhof besuchen kam; die Erwachsenen hatten ihn ja zur Beerdigung nicht mitgenommen. Wie gehetzt stand er auf, zog sich an, stahl der Mutter ein paar Groschen für die Straßenbahnfahrt aus der Kasse und fuhr nach Weißensee. Nicht nur das Krankenhaus, auch der Friedhof, auf dem Wolfgang neben seinem Vater beerdigt worden war, lag in diesem grünen Bezirk. Er kannte sich dort aus, war oft genug mit der

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