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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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Mutter dort gewesen, wusste ganz genau, wo der dicke Georg sein Grab hatte.
    Als er dann vor dem noch frischen Grabhügel mit den vielen Kränzen und schon halb verwelkten Blumen stand, wurde ihm mit einem Mal ganz kalt. Er sah zum Himmel auf, als müsste der Bruder jeden Augenblick dort erscheinen, und fing an zu heulen: Er hatte Wolfie keine Blumen mitgebracht; wenn man ein Grab besuchte, musste man doch Blumen mitbringen! Immer noch heulend rannte er vom Friedhof und quer über die Straße; dort hatte er Gärten gesehen.
    Wie er über den Zaun gekommen war, daran erinnerte er sich später nicht, er sah sich nur mitten in einem Beet knien und Blumen ausreißen, bis eine harte Hand ihn am Hemdkragen packte. Ein Mann stand hinter ihm, vierschrötig und sonnenverbrannt und mit Bierfahne. Der zornige Kleingärtner merkte schnell, dass Manni Fieber hatte, erschrak, fragte ihn aus und rief die Polizei. Die brachte ihn im Streifenwagen in den Ersten Ehestandsschoppen zurück. Fieberglühend, verheult und verrotzt stand er vor der schreckbleichen Mutter, die geglaubt hatte, er läge in seinem Bett. Erst schimpfte sie ihn furchtbar aus, dann beruhigte sie sich langsam und versprach, bald mal mit ihm zu Wolfgang zu fahren; er solle nur erst wieder ganz gesund werden.
    Drei Tage später machte sie ihr Versprechen wahr. Im Taxi fuhren sie zum Friedhof, legten Blumen auf Wolfies Grab und sahen lange auf all die Kränze und nun schon gänzlich verwelkten Blumen nieder. Er fragte die Mutter, wo der Bruder denn jetzt sei, und natürlich sagte sie: »Im Himmel.« Er fragte, wie lange man tot sei, und sie sagte: »Ewig.« Das aber konnte er sich nicht vorstellen. Ewig? Wie lange war denn das? Da sagte die Mutter, die Ewigkeit reiche bis ans Ende der Welt – und das gebe es gar nicht. Eine Antwort, die er noch weniger verstehen konnte. Und nun sprach er die Frage aus, die ihn so sehr beschäftigte: Ob er denn schuld sei an Wolfgangs Tod, weil er doch so lange niemand von dem Unfall erzählt hatte.
    Eine Frage, die die Mutter zum Weinen brachte. »Aber du bist doch noch viel zu klein, um an irgendetwas schuld sein zu können!«
    »Und wer ist dann schuld?«, fragte er. »Der liebe Gott?« Irgendwer musste doch schuld sein. Und hatte Else Golden, eine von Mutters Stammgästen, bei der Feier nach der Beerdigung denn nicht gesagt: »Der Mensch kommt um – und der liebe Jott, der kiekt nur dumm!«
    Lange antwortete die Mutter nicht, dann wurde sie auf einmal böse: »Es gibt keinen Gott. Jedenfalls ist es mir sehr viel lieber, wenn es keinen gibt. Gäbe es einen, wäre der ja ein ganz furchtbar grausamer Kerl. Der hätte ja immer alles mit angesehen, all die Kriege und das viele Leid, und nie hätte er irgendwas geändert, obwohl er es doch schließlich gekonnt hätte – als Gott!«
    Das Letzte hatte so zornig und höhnisch geklungen, dass Manni nicht mehr wagte, den Mund aufzumachen. Und die Mutter, selbst erschrocken über ihre Worte, schwieg ebenfalls. Erst als sie wieder im Taxi saßen und den Ersten Ehestandsschoppen schon sehen konnten, sagte sie wieder etwas. Da sagte sie: »Du wirst mir nicht Fußball spielen. Hast du gehört? Du nicht!«

6. Drei taube Nüsse
    D er Wind hatte ein groschengroßes Birkenblatt in die Freizelle geweht, schon etwas gelb, aber wie zart und ebenmäßig geformt und gegliedert war es, wie schön das Muster der Blattadern, die sich im sanften Bogen von der Mittelrippe fortbewegten … Wie lange hatte Lenz ein solches Blatt nicht mehr so aufmerksam betrachtet? Es erschien ihm wie ein Gruß aus einer anderen, freundlicheren Welt.
    Er nahm das Blatt mit in die Zelle, legte es so auf den Tisch, dass er es mit der Hand vor Blicken durch den Spion schützen konnte – es war verboten, irgendetwas von draußen mit in die Zelle zu nehmen –, und stellte sich einen Waldspaziergang vor: Hannah, Micha, Silke und er, wie sie im April vor vier Jahren, als es an einigen Tagen bereits bis zu dreißig Grad heiß wurde, von Schmetterlingshorst nach Marienlust wanderten; immer am Langen See entlang. Blendend weiße Segel, kleine Paddelboote, Ausflugsdampfer begleiteten sie. Später stiegen sie zum Müggelturm hoch. Alles mit Micha im Sportwagen, Decken und jede Menge Proviant in den Taschen. Noch später lagen sie im Wald, die Kinder gingen auf Entdeckungsreise und Hannah und er sahen zu den Wipfeln der trockenen märkischen Kiefern hoch. Um sie herum summte und brummte es, ein Kuckuck hörte nicht auf zu rufen und sie

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