Krokodil im Nacken
konnte.
Onkel Ziesche trug immer denselben tadellos gebügelten grauen Anzug und eine dazu passende taubenblaue Weste und fiel zuallererst durch seine vornehme Freundlichkeit auf. Fing er aber an zu reden, wurde er zum Studienrat und erheiterte seine Zuhörer durch immer witzigere Pointen. Manni war überzeugt davon, dass Onkel Ziesche wirklich vieles besser wusste als die anderen Stammgäste.
Maxe Rosenzweig genoss bei der Mutter viele Privilegien. Was sie anderen Gästen abschlug, Maxe genehmigte sie es. Alle anderen Gäste mussten brav durch die Ladentür kommen, Maxe, der ja auf dem Treppenflur gleich gegenüber wohnte, durfte an der Hintertür klingeln; für andere Gäste war dienstags Schließtag, Maxe durfte sich zu den Skatbrüdern setzen und kiebitzen. Und das, obwohl er nie mitspielte. Er kuckte nur zu, ärgerte sich über die Fehler, die gemacht wurden, stöhnte auf, griff sich an den Kopf. Was Schnurrbart-Meisel, den Bessel und die Golden jedes Mal ganz verrückt machte. Schimpften sie den Schneidermeister dann aus und Manni war in der Nähe, wurden Maxe Rosenzweig und er zu Verbündeten. Dann grinste der kleine Mann ihm zu, als wollte er sagen: Soll’n se meckern, die Quasselköppe, wir kucken trotzdem. Und Manni grinste zurück. Er verstand den kleinen Maxe: Als ob ein Skatspiel eine so ernste Angelegenheit war!
Oft versuchte Manni sich vorzustellen, wie das gewesen sein musste: drei Jahre im finsteren Keller. Es gelang ihm nicht. Eines aber kapierte er sofort: dass der kleine Schneidermeister noch immer Angst hatte. Als Maxe Rosenzweigs Frau gestorben war, jene treue Hete, die Nacht für Nacht zu ihm in den Keller runtergeschlichen war, um ihm Essen zu bringen und Waschzeug und den Nachttopf auszutauschen, dauerte es nicht lange und eine neue kleine Frau Rosenzweig stand bei Maxe in der Küche, half im Laden und legte sich zu ihm ins Bett. Die Mutter nahm ihm das sehr übel. »Das hat die Hete nicht verdient«, warf sie ihm eines Tages vor. Da senkte der kleine Herr Rosenzweig nur den Kopf und sagte leise: »Allein hab ich Angst, Lisa.« Das konnte die Mutter dann verstehen, und Manni, der das Gespräch zufällig mit angehört hatte, auch.
Die Mutter wunderte sich oft darüber, dass es dem kleinen Schneidermeister offensichtlich gar nichts ausmachte, neben dem Nazi Bessel am Stammtisch zu sitzen, ihm beim Skat über die Schulter zu kucken und ihm hin und wieder zuzuprosten. Der ehemalige liebe Gott vom Prenzlauer Berg hätte den »Juden Rosenzweig« nur wenige Jahre zuvor, hätte er ihn entdeckt, doch ganz sicher ins KZ und damit in den sicheren Tod transportieren lassen.
Maxe Rosenzweig aber wollte über die Vergangenheit nicht reden. Ging es in den Stammtischgesprächen um den Krieg oder die Nazizeit, schwieg er, bis man sich wieder einem anderen Thema zuwandte. So auch an jenem Dienstagabend, an dem Else Golden sagte, sie glaube nicht an Hitlers Massenvergasungen. »Wer macht denn so was? Und wie soll das denn keiner gemerkt haben? Hab ich denn all die Jahre auf ’m Mond gelebt?«
Schnurrbart-Meisel und Freund Bessel nickten nur still dazu, Maxe Rosenzweig aber kuckte, als interessierten ihn allein die Karten, die der Bessel gerade aufgenommen hatte. Da verlor die Golden die Geduld und bat ihn, doch auch mal was zu solchem Quatsch zu sagen, und alle blickten ihn an.
Da wurde er ganz blass, und Manni sah ihm an, dass er nun am liebsten gegangen wäre. Weil er das aber nicht fertig brachte, zuckte er nur die Achseln. »Wat soll ick ’n sagen? War ja nich dabei.«
Die Golden nickte nur, als hätte sie genau diese Antwort erwartet, die Mutter aber, die gerade eine neue Lage Bier gebracht hatte, ärgerte sich mal wieder über ihre »beste Freundin«. »Komisch!«, schimpfte sie die Skatrunde aus. »Den dümmsten Märchen der Nazis habt ihr geglaubt. Wenn euch aber was nicht in den Kram passt, helfen keine Fotos in den Zeitungen und keine Filmberichte im Kino, dann gab’s das eben einfach nicht.«
Sie wollte noch etwas sagen, brachte vor Zorn aber kein Wort mehr heraus und lief in die Küche. Manni stürzte ihr nach und sah zu, wie sie die heißen Bockwürste aus dem Wasser nahm. Als sie ihn bemerkte, schimpfte sie: »Mir kommt der Kaffee hoch, wenn ich solches Zeug höre. Und Maxe traut sich nicht mal, zu widersprechen … Dabei haben se ihm doch die halbe Familie umgebracht. Das wird man doch wohl wenigstens mal sagen dürfen.«
Die Mutter, das wurde Manni später klar, interessierte sich
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