Krokodil im Nacken
eigentlich nicht für Politik; sie hatte genug anderes im Kopf. Hätte sie einen Mann gehabt, der sich mit all dem auseinander gesetzt hätte, hätte sie es ganz sicher dem überlassen, gegen Else Goldens Geschwätz zu Felde zu ziehen. Schnurrbart-Meisel aber hatte keine Meinung, außer die, dass man zusehen musste, wo man blieb, und das immer und ewig und zu allen Zeiten. »Politik macht nicht satt«, das war einer seiner Lieblingssprüche. Also blieb der Mutter gar nichts anderes übrig, als selbst den Mund aufzumachen, wenn ihr etwas gegen den Strich ging.
An jenem Dienstagabend in der Küche fragte Manni die Mutter das erste Mal, ob sein Vater auch ein Nazi gewesen sei; so einer wie der Bessel vielleicht. Er hoffte sehr, dass sie nein sagen würde, und er durfte erlöst aufatmen, als sie laut auflachte: »Um Himmels willen! Wenn der Herbert ein Nazi gewesen wäre, hätt es dich nie gegeben.«
Erst war er erleichtert, später aber, als er im Bett lag, war er nicht mehr ganz so froh: Nein, geheiratet hätte die Mutter so einen Bessel nicht, aber Bier und Schnaps schenkte sie ihm aus. Weil sie eine Wirtin war und sie von ihren Gästen lebten. Also durfte er, Manni, wenn er erwachsen war, niemals die Kneipe übernehmen. Es kamen ja nicht nur Onkel Ziesches und Maxe Rosenzweigs zu ihnen; und die Bessels, Bel Amis und Else Goldens wollte er nicht bedienen.
Auch dass die Stadt geteilt war, weckte Mannis Neugier. So was gab’s ja nicht überall. Zwar lebte er im Ostteil der Stadt, dem ärmeren Berlin, wie es allgemein hieß, einen Nachteil aber sah er darin nicht, denn stieg er in die S-Bahn, war er schon nach zwei Stationen am Gesundbrunnen, dem westlichen Einkaufsparadies der Ostler vom Prenzlauer Berg. Dort gab es Geschäfte und Verkaufsstände, die feilboten, was es in seinem Stadtteil nicht gab: Apfelsinen, Bananen, Sahnebonbons, Schokolade, Kaugummi, Ölsardinen, Räucherfisch, Schinken, die verschiedensten Käsesorten.
Da die Mutter zum Einkaufen nie Zeit hatte, schickte sie Manni. Er verknotete das Westgeld, das die Mutter immer wieder mal einnahm, fest ins Taschentuch – Ostlern war es verboten, Westgeld zu besitzen – und fuhr los. Das mit dem Taschentuch war der simpelste Trick der Welt, doch war er überzeugt davon, dass die Volkspolizisten, sollten sie ihn kontrollieren, das verbotene Geld auf jeden Fall finden würden. Wozu da eine Tasche an die Unterhose nähen?
Die S-Bahn-Fahrt von Ost nach West glich der Reise durch einen Zaubertunnel. Er blieb in der gleichen Stadt und fuhr doch in eine ganz andere Welt. Besonders im Herbst oder Winter, wenn es früh dunkel wurde, erschien Manni der Westteil der Stadt wie ein ewiger, bunter Weihnachtsmarkt. Leuchteten die Petroleumfunzeln, Sturmlaternen und Talglichter, die an den kleinen, oftmals Ruinen vorgelagerten Verkaufsbuden der ersten Nachkriegsjahre schaukelten, auch nur schwach, so glänzte, was sie beleuchteten, umso heller. Und natürlich roch hier alles viel besser als im Osten. Die Verkäufer und Verkäuferinnen in ihren weißen Kitteln, im Winter Filzstiefel an den Füßen, Mützen und Ohrenschützer auf und mit dampfendem Atem ihre Waren anpreisend, bewachten ja Schätze. Schon allein die abenteuerlichen Bilder auf den Ölsardinenbüchsen – mal ein bärtiger, Pfeife rauchender Seemann mit Südwester drauf, mal ein sturmbewegter Fischkutter – konnten Manni zum Träumen bringen.
Wer einkaufen wollte, musste aber rechnen können. Mutters Westgeld reichte ja nicht. So kam es, dass Manni im Ersten Ehestandsschoppen bald als Umrechnungsexperte galt. Wie viel Ostmark musste man über den Schalter der Wechselstube am Gesundbrunnen schieben, um zwanzig Westmark zu bekommen? Wie viel Westmark brauchte man für hundert Ostmark? Er hatte das in null Komma null Sekunden heraus, und dabei war das nicht einfach, denn der Kurs schwankte. Mal war eine Westmark fünf Ostmark wert, mal vier, mal vier Mark dreißig. Für seine Rechenkünste lobte ihn sogar Herr Bessel: »Jawohl, rechnen muss man können, alles andere ist Humbug.« Und Onkel Ziesche sprach voller Hochachtung von all den großen Genies, die in der Schule keine Leuchten waren, die Menschheit durch ihren praktischen Verstand aber weit vorangebracht hätten.
Später imponierten Manni nicht mehr die Ölsardinenbüchsen, da interessierte er sich mehr für Kaugummi und Kreppsohlen, Boogie-Woogie und Rock’n’Roll, Coca-Cola und Niethosen und vor allem für die vielen verschiedenen Filme, die in den
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