Krokodil im Nacken
bulliger, quadratschädeliger Vater war bei der Volkspolizei gewesen und nie hatte man ihn im Haus ohne seine blaue Uniform und die hohen schwarzen, stets blitzblank gewichsten Paradestiefel gesehen. Ein Mann, der für Recht und Ordnung stand. Und nun war er weg, und Manni hatte Hansi, der mit ihm in eine Klasse ging und in allem ein Ebenbild seines Vaters war, am Abend zuvor noch aus dem Lebensmittelladen der Wilkes kommen sehen und ihn angesprochen. Hansi aber hatte nur stumm die Augen aufgerissen und war schnell weitergegangen. Sicher hatte er da schon gewusst, was seine Eltern vorhatten, und sein Vater hatte ihm eingeschärft, mit niemandem darüber zu reden. Nicht viel später war Johnny Kleppinger »verblüht«, wie die Mutter das nannte. Gerade achtzehn geworden, kam er eines Tages einfach nicht mehr nach Hause. Seine Eltern sorgten sich sehr, bis der Briefträger endlich einen Brief von Johnny brachte, in dem er ihnen mitteilte, in Hamburg gelandet zu sein und nach Australien auswandern zu wollen.
Am Stammtisch wurde gewitzelt: »Und auch der Onkel Hektor wohnt nun schon im andern Sektor.« Es wurde von Flüchtlingen erzählt, die zuvor alles, was sie nicht mitnehmen konnten, in aller Seelenruhe verkauft hatten, von bitterbösen Abschiedsbriefen an Ulbricht, Pieck oder Grotewohl und von aus Wut und Trotz voll geschissenen Matratzen, die hinterlassen worden waren.
Für Manni war das alles nur schwer zu verstehen. Weshalb die Möckels, Bohms und Uhlenbuschs nicht umgezogen waren, wie es sich gehörte, mit einem Möbelwagen und der Hilfe aller Kinder aus dem Haus, das begriff er schon. Aber war es hier, wo er lebte, denn wirklich so schlimm, dass so viele nicht bleiben wollten? Es hatten doch nicht alle eine Fleischerei und eine Tochter, die zur Oberschule wollte. Gingen so viele weg, weil es ihnen woanders besser gefiel als in der Raumerstraße? Vielleicht wegen dem Westgeld, den vollen Schaufenstern, den besseren Filmen oder den schicken Klamotten?
Oder war es ihnen tatsächlich nur um das gegangen, was Onkel Ziesche »Freiheit« nannte?
8. Der Tag X
J ener Tag, an dem Manni glaubte, dass wieder Krieg war!
Am Nachmittag zuvor waren Kalle Kemnitz und er beim Friseur gewesen. Aus einem ganz besonderen Grund: Sie wollten einem noch sehr jungen, unsicheren Lehrer, der die Angewohnheit hatte, sie bei Unaufmerksamkeit an den Haaren aus der Bank zu ziehen, mal so richtig eins auswischen. Die Sache klappte auch, am Morgen dieses 17. Juni 1953 kamen fast alle Jungen mit einem sehr kurz geschorenen Igel in die Klasse. Natürlich wollte Lehrer Bremser, ein langer, dürrer Kerl mit glatt gescheiteltem Haar und Adlernase, sofort wissen, wer die Klasse zu dieser Sabotage an seinen pädagogischen Mitteln angestiftet hatte, und alle bemühten sich, Manni nicht zu verraten. Nach und nach schielten sie aber doch zu ihm hin, und der Bremser, ehemaliger Feinmechaniker und damit im Gegensatz zur Zeisig tatsächlich der Arbeiterklasse entstammend, ließ den reaktionären Kleinbürgersohn mal wieder nachsitzen. Begründung: Er hätte seine Aufgaben nicht ordentlich genug gemacht. Für Manni ein Klacks; er war ein geübter Nachsitzer. An diesem Tag jedoch hatte er erst eine halbe Stunde aus dem Lesebuch abgeschrieben, da kam der Bremser schon wieder ins Klassenzimmer gestürzt und schickte ihn nach Hause. »Geh! Kannst verschwinden! Aber reiß dich künftig zusammen. Ich lass nicht zu, dass du die Klasse am Lernen hinderst. Ein fauler Apfel verdirbt den ganzen Korb, das war schon immer so.«
Der verwunderte faule Apfel packte seine Sachen zusammen und ging. Kaum jedoch zockelte er über den Schulhof, überholte ihn der Bremser, und Manni sah, wie der Lehrer sein Parteiabzeichen vom Jackenaufschlag nahm, jenen »Bonbon«, auf den er doch so stolz war und über den er ihnen einmal eine volle Schulstunde lang erklärt hatte, dass die beiden darauf abgebildeten Hände den Handschlag von Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl symbolisierten und dass mit der Vereinigung der beiden Arbeiterparteien ein alter Wunschtraum der Arbeiterklasse in Erfüllung gegangen sei. Dass allerdings die eine Partei die andere geschluckt hatte und deshalb viele Sozialdemokraten, die sich nicht schlucken lassen wollten, eingesperrt worden oder in den Westen gegangen waren, wie am Stammtisch erzählt wurde, hatte er ihnen nicht gesagt.
Vor dem Schultor erwartete ihn der aufgeregte Kalle, der doch mit Mannis vorzeitiger Entlassung aus dem Klassenzimmer gar
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