Krokodil im Nacken
sogar selber welche erzählt. Das hatte Manni verletzt. Egal, ob dieser schnauzbärtige Stalin, von dem überall in der Stadt riesige Bilder hingen, nun ein Befreier der Menschheit war oder ein Verbrecher, wenn ein Mensch gestorben war, durfte man sich doch nicht freuen.
Die Mutter hatte ihm seine Empörung angesehen. »Das ist immer so in der Politik, wenn die einen weinen, jubeln die anderen. Aber wirkliche Freude ist das nicht. Nur Schadenfreude.«
Die halbe Stadt sei auf den Beinen gewesen, hatte der Bremser am Morgen danach stolz verkündet und den Trauerzug eine riesige Demonstration der Liebe genannt. War heute, an diesem 17. Juni, vielleicht die andere Hälfte unterwegs, jene, die bei Stalins Tod Schadenfreude empfunden hatte?
Wir wollen unsere Ausbeuter zurück, hatte jemand mit Kreide an eine Hauswand geschrieben, gleich daneben wurde eine Schaufensterscheibe eingeschlagen. Ein magerer, gelbgesichtiger Alter wollte die Plünderer aufhalten. »Das nicht!«, schrie er. »Solche sind wir doch nicht!« Mehrere jüngere Männer stießen ihn zur Seite, und er musste hilflos mit ansehen, wie das Schaufenster ausgeräumt wurde.
Es ging über den Marx-Engels-Platz in die breite Straße Unter den Linden hinein. Aus der Friedrichstraße kam einer im grauen Anzug. Er blutete im Gesicht, seine Jacke war zerfetzt. Hastig blickte er sich um. Eine Frau im blauen Kostüm und mit Hut auf dem Kopf kam ihm nachgelaufen. »Steck es doch wenigstens in die Tasche!«, flehte sie den Mann an. Doch er schüttelte nur den Kopf und wurde, wie aus Trotz, etwas langsamer.
Manni sah den beiden nach, bis sie in der Menge verschwunden waren. Der Mann im grauen Anzug war also nicht wie der Bremser, wollte sein Parteiabzeichen nicht abnehmen? War er nur mutiger oder steckte noch anderes dahinter?
Als sie vor dem Brandenburger Tor angekommen waren, staute sich die Menge; die rote Fahne, die sonst auf dem Tor flatterte, war bereits durch eine schwarz-rot-goldene ersetzt. Einige der Männer und Frauen hoben zu singen an, andere stimmten mit ein. »Deutschland, Deutschland, über ahalles, über alles in der Welt«, sangen sie. Ein Lied, das auch die Hitlerleute oft gesungen hatten, wie Manni aus vielen Filmen wusste. Ihm wurde ein wenig unheimlich zumute. Andere Demonstranten sangen »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit«, ein Lied, das er aus der Schule kannte und das in den Filmen von den Nazigegnern gesungen wurde. Wie passte das alles zusammen?
»Kuck mal da!« Kalle stieß ihn an.
In der Wilhelmstraße brannte ein Auto. Auch Transparente und Losungen waren in Flammen aufgegangen. »Wir woll’n freie Menschen sein!«, tönte es herüber und: »Es hat keinen Zweck, der Spitzbart muss weg!« Woanders wurde gerufen: »Lasst die politischen Gefangenen frei!« und »Nehmt die Normenerhöhung zurück!«. Wieder woanders: »Freie Wahlen! Wir woll’n freie Wahlen!«
Ein kleiner Mann mit Hut auf dem Kopf, der bisher nur still zugehört hatte, konnte da nicht länger nur tatenlos zusehen. Er flüsterte mit den beiden Männern rechts und links von ihm, sie nickten und der eine von ihnen nahm den Kleinen mit Hilfe des anderen auf seine Schultern. Kaum oben, schwenkte der Kleine seinen Hut, um die Umstehenden auf sich aufmerksam zu machen, und rief laut, die Normenerhöhung sei ja längst zurückgenommen. Die Partei habe erkannt, einen Fehler gemacht zu haben. Sinnlose Zerstörungswut und die Vernichtung von Volkseigentum jedoch brächten niemanden weiter. Jetzt komme es einzig und allein darauf an, vernünftig und überlegt zu handeln und Arbeiterausschüsse zu wählen, um auf breiter demokratischer Grundlage die Interessenvertretungen in den Betrieben abzusichern. Freie Wahlen könne es erst danach geben.
Eine Rede, die Manni nur teilweise verstand, einige der Umstehenden jedoch kuckten, als fänden sie gar nicht so dumm, was der Redner da gesagt hatte. Andere drängten auf ihn zu, zerrten ihn aufs Pflaster zurück und rissen ihm sein Parteiabzeichen ab: »Lügner! Euch geht’s doch nur darum, Zeit zu gewinnen.« Der Kleine wollte widersprechen, ein alter Mann mit faltendurchzogenem Gesicht unterbrach ihn streng: »Das soll uns dein Ulbricht selber sagen.« Der Kleine mit dem Hut wurde durch die Reihen gestoßen, während seine beiden Nebenmänner versuchten, ihn so gut es ging vor Püffen und Schlägen zu schützen, bis sie irgendwann mit ihm in der Menge verschwunden waren. Gleich darauf drängte alles durchs Brandenburger Tor.
Manni
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