Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
Vom Netzwerk:
blieb stehen, wurde angerempelt, gestoßen und beschimpft. »Hau ab, Krümel, sonst wirste noch zertreten.«
    »Was ist denn?« Kalle wollte mitlaufen, mitsingen. Er glühte vor Begeisterung.
    »Rüber geh ich nicht«, sagte Manni und wunderte sich über sich selbst. Er fuhr doch sonst so gern in den Westen rüber, was hinderte ihn also, da mitzulaufen?
    »Und wohin willste?«
    Eine Gruppe Jugendlicher, die sich auf Fahrrädern durch die Menschenmassen drängten, nahm Manni die Entscheidung ab. Es waren Jungen in Niethosen und mit Bürstenhaarschnitt, die nach links in die Wilhelmstraße hineinfuhren. Ohne sich erst lange zu besinnen, lief er hinter ihnen her. In dieser Gegend kannte er sich aus. Jedes Mal, wenn er was zum Anziehen brauchte, fuhr die Mutter mit ihm hierher. Eine Bekannte von ihr arbeitete in einem Textilgeschäft an der Leipziger Straße; kam neue Ware, legte sie immer etwas zurück, was man sonst nirgends bekam.
    Der verwirrte Kalle hielt sich dicht an Manni, aber auch andere Menschen drängten in die Wilhelmstraße. Bis es nach einigen hundert Metern vor einem riesigen, an einen Bunker erinnernden Gebäude erneut einen Stau gab. Alle Zugänge dieses Gebäudes waren mit eisernen Gittern versperrt, seltsamerweise aber stand vor einem dieser Gitter ein Tisch, als hätte ihn jemand dort vergessen. Steine flogen gegen den Gebäudeklotz, ging eine Fensterscheibe zu Bruch, prasselte lauter Beifall los. Es war die Machtzentrale des an diesem Tag bis in seine Fugen erschütterten Staates, vor der sie in jenem Augenblick standen, das ehemalige, noch unter den Nazis erbaute Reichsluftfahrtministerium und jetzige Haus der Ministerien. Erst sehr viel später wurde Manni das bewusst, und nie konnte der Erwachsene dieses Gebäude betreten, ohne daran denken zu müssen, was an jenem Tag hier geschah.
    Nicht lange und ein Mann in zerschlissener Arbeitskleidung trug eine aus dem Pflaster gerissenen Holztafel vorüber, die ankündigte, dass nicht weit von hier die Grenze nach WestBerlin verlief. Er schwenkte die schwere Tafel wie eine Siegestrophäe und der Beifall brauste noch heftiger los. Da konnte eine junge Frau mit aufgelösten Haaren, die ganz offensichtlich nicht zu den Demonstranten gehörte und schon ein paar Mal ganz giftig gekuckt hatte, ihre Wut nicht länger zügeln. »Ihr seid doch alles Lumpen«, schrie sie mit schriller Stimme. »Achtgroschenjungs! Bezahlte Kreaturen! Wisst ihr denn nicht, dass ihr gegen eure eigenen Leute vorgeht?«
    Sofort drängte ein langer, dünner Mann mit bleichem Vogelgesicht auf sie los. »Wat redeste denn da? Ick hab fünf Jahre KZ hinter mir. Denkste, dafür« – er wies auf die Gitter – »will ick jekämpft hab’n? Denkste, für die Bonzen sind meine Jenossen Hitlers Henkern zum Opfer jefall’n? Unsre Leute! Dit da sind doch schon längst nich mehr unsre Leute, dit sind Stalins Leute!« Er wollte noch mehr sagen, wurde aber von einem immer lauter werdenden Rasseln, Dröhnen und Klirren abgelenkt, das schon bald jeden anderen Laut erstickte. Panzer! Vom Spittelmarkt her kamen sie herangefahren, vorneweg ein Panzerspähwagen, voll besetzt mit russischen Soldaten, wie die vielen Stahlhelme verrieten, die über die Seitenwände herausragten, rechts und links je ein Maschinengewehr. Gleich dahinter die lange Reihe der graugrünen stählernen Kolosse.
    Kalle nahm nur still Mannis Hand und Manni hielt sich an Kalle fest. Kam er da heran, der Krieg? Sah es so aus, wenn ein Krieg begann? Aber vielleicht wollten die Russen mit diesen Gewehren ja gar nicht schießen, vielleicht wollten sie den Leuten nur Angst machen …
    Die meisten Erwachsenen hatten diese Hoffnung nicht. Einige stürzten in Richtung Potsdamer Platz davon, andere flohen zum Brandenburger Tor zurück. Nur wenige traten vor, ballten zornig die Fäuste und riefen: »Pfui! Russen weg! Das ist unsere Sache!«
    »Nicht!«, warnte da ein knorriger Mann mit kurz gestutztem Schnauzer. »Lasst die Russen in Ruhe! Wenn wir uns mit denen anlegen, ist’s gleich zappenduster.«
    »Legen wir uns nicht mit ihnen an, geht die Sonne auch nicht auf«, antwortete einer mit Schirmmütze traurig. »Solange die bei uns stationiert sind, wird sich ja doch nichts ändern.«
    »Komm!« Manni zog Kalle am Ärmel, und dann nahmen auch sie die Beine in die Hand und liefen in Richtung Potsdamer Platz davon, wo sich bereits eine größere Menschenmenge versammelt hatte. Dicht gedrängt standen Männer, Frauen, Kinder und Jugendliche und

Weitere Kostenlose Bücher