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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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wurde, und er sah Kalle sich die Hosen runterzerren und hinhocken. Kaum hatte Kalle die Hosen wieder hoch, drangen Qualmwolken über den Platz. Ein ähnlicher Geruch wie der, der über dem Alexanderplatz hing, umfing sie. Sie blickten sich um und sahen aus einem der Ruinenfenster Flammen schlagen. »Weg!«, schrie Manni und stürzte schon hinter der Mauer hervor, einem russischen Offizier mit rotem Stern an der Mütze direkt in die Arme. »Wohin?«, schrie der verdutzt.
    »Nach Hause!«, schrie Manni zurück. »Ick will zu meine Mutter.«
    »Mutter?«, fragte der Offizier und hielt auch Kalle fest, der erst gar nicht versucht hatte, ihm auszuweichen.
    »Mutter!«, schluchzte Kalle.
    Da schüttelte der Offizier den Kopf: »Nix gutt! Nix gutt!«, und dann führte er sie, in jeder Hand einen Hemdkragen, mit sich fort, bis er ihnen in einer etwas ruhigeren Seitenstraße den Befehl gab, sofort nach Hause zu laufen.
    »Zu Mamotschka, verstehen?«
    Nie zuvor hatten Manni und Kalle einen Befehl so gut verstanden; nie zuvor waren sie so schnell durch die Straßen gerannt.
    Wie lange Manni an jenem Nachmittag hinter der Litfaßsäule gestanden und zum Ersten Ehestandsschoppen hinübergeblickt hatte? Eine halbe Stunde mindestens. Er traute sich einfach nicht hinein. Zwar war die Mutter es gewohnt, dass er manchmal nachsitzen musste, weshalb sie sich ganz bestimmt nicht gleich Sorgen gemacht hatte, irgendwann aber musste sie unruhig geworden und zur Schule gelaufen sein und hatte ihn dort nirgends finden können. Und dabei wusste sie doch sicher, was am Alex und am Potsdamer Platz los war, und kannte seine Vorliebe für Stadtwanderungen; wie sollte sie da keinen Schreck bekommen haben?
    Endlich, nach vielen unbekannten Gästen, kam der bucklige Kurt aus der Gaststätte und Manni konnte einen Zipfel von sich sehen lassen. Und richtig gehofft, der kleine, verwachsene Mann in seinem schon sehr abgetragenen Anzug entdeckte ihn, kam um die Litfaßsäule herum und starrte ihn mit seinen vom vielen Trinken bereits ganz glasigen Augen an. »Da biste ja endlich. Mach ma hinne, dass de reinkommst. Deine Mutter sitzt wie auf glühenden Kohlen.«
    Den Kopf zwischen den Schultern, betrat Manni die Gaststube – und sofort verstummte aller Lärm, und die Mutter kam wie ein aufgeregter Vogel um die Theke herumgeflattert, um ihm die fällige Ohrfeige zu versetzen. Mit glühendem Gesicht lief er ins Hinterzimmer und warf sich auf die Couch.
    Die Mutter kam ihm nach. »Wo warst du?« Ihre Stimme klang hart, sie war noch immer sehr aufgeregt.
    Stockend erzählte Manni ihr alles und da hätte sie ihm am liebsten noch eine runtergehauen. Weil ihr dazu aber nun die Wut fehlte, weinte sie nur, und er schämte sich mal wieder so sehr, dass er am liebsten mitgeheult hätte. Er wusste ja, dass die Mutter in solchen Augenblicken immer an Wolfgang dachte.
    Als dann die Mutter kopfschüttelnd und seufzend wieder gegangen war, hockte er sich vors Radio und kurbelte die Skalenanzeige rauf und runter, um mal hier, mal dort in die Nachrichten hineinzuhören. Er wusste, wo die Westsender und wo die Ostsender lagen, und war ein geübter Radiohörer.
    Da – der RIAS! Erst Paukenschläge, dann »Hier spricht der RIAS Berlin, eine freie Stimme der freien Welt«. Es gab Reportagen von den Geschehnissen des Tages und die jeweiligen Reporter sprachen sehr aufgeregt. Manchmal waren im Hintergrund Schüsse zu hören. Von achtzehn Millionen unfreier, verängstigter und verelendeter Menschen in der Ostzone, die heute zum ersten Mal aufbegehrt hätten, um sich von der SED-Diktatur zu befreien, berichteten die Reporter, von der nun schon seit Jahren andauernden sowjetischen Fremdherrschaft und der aussichtslosen Situation ihrer politischen Gegner, die in russischen Bergwerken Zwangsarbeit leisten mussten, bis sie irgendwann zu Tode erschöpft zusammenbrachen.
    Ob das stimmte, was da gesagt wurde? In der Schule wurde der RIAS nur Lügensender genannt. Aber so etwas durfte doch eigentlich niemand erfinden! Andererseits: Weder die Mutter noch Robert, Onkel Willi oder all die anderen Leute, die er kannte, waren verängstigt und verelendet. Oder hatte er es nur noch nicht bemerkt? Vielleicht, weil ihm die Erwachsenen nicht alles sagten?
    Die Sender im Osten verlasen unaufhörlich eine Erklärung, die besagte, dass über OstBerlin der Ausnahmezustand verhängt sei. Alle Demonstrationen, Versammlungen, Kundgebungen und sonstige Menschenansammlungen von mehr als drei Personen seien

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