Krokodil im Nacken
an diesem Tag passiert war, nur ein Spiel unter Erwachsenen.
Wenige Tage später wurde am Stammtisch erzählt, dass es zu mehreren Erschießungen von Aufständischen gekommen sei und die Regierung es allein den russischen Panzern zu verdanken habe, dass sie noch an der Macht sei.
Onkel Ziesche: »Ein schöner Widersinn! Die Befreier der Arbeiterklasse müssen sich durch fremdes Militär von denen befreien lassen, die sie befreien wollen.«
In der Schule jedoch hieß es, bei den Streiks habe es sich einzig und allein um eine von den Imperialisten angezettelte Aktion gegen den Sozialismus gehandelt. Der allergrößte Teil der Demonstranten sei nämlich aus dem Westen gekommen, um den von den Feinden des Sozialismus seit langem geplanten Tag X zu starten. Einige teilweise fehlerhafte, inzwischen aber längst korrigierte Regierungsentscheidungen hätten diese Ganoven dazu benutzt, um ein paar Dümmlinge, die nicht wussten, wo ihre wahre Heimat war, auf ihre Seite hinüberzuziehen.
Onkel Ziesche, den immer sehr interessierte, was in der Schule erzählt wurde, ärgerte sich über diesen »Wunschtraum«: »So ist’s richtig! Das eigene Volk wird ja noch gebraucht, also muss ihm eingehämmert werden, dass nicht wahr sein kann, was nicht wahr sein darf … Nein, nein, ihr wart es nicht, die sich gegen uns erhoben haben, es war mal wieder die berühmte Rotte fremder Bösewichter!« Traurig sah er Manni an. »Aber was regen wir uns auf? Soll’n se uns doch ruhig für dumm verkaufen, vielleicht sind wir’s ja auch …«
9. Bruder Fischherz
E in schöner Herbst in diesem Jahr! An manchen Tagen um die Mittagszeit drang die Sonne so diffus grell durch die Glasziegelsteine, dass Lenz an die Berichte von Leuten denken musste, die schon mal gestorben sein wollten. Beim Übergang vom Leben in den Tod, am Ende eines langen, dunklen Tunnels, wollten sie ein solches Licht gesehen haben. Befand er, Manfred Lenz, sich denn nicht auch in einem Tunnel; wenn auch in einem, in dem es nicht vorwärts ging und nicht zurück?
Oft starrte er dieses Grellweiß an und dachte daran, dass irgendwo dahinter, in eben diesem Augenblick, Straßenbahnen durch die sonnenüberflutete Stadt rumpelten, Litfaßsäulen mit Plakaten beklebt wurden, in den Parks Kinder spielten. Er sah junge Paare durch einen Herbstwald spazieren, vor Kinos anstehen, sich in Cafés treffen oder ihre Kinder aus dem Kindergarten abholen … Das Leben ging weiter, auch ohne Hannah und Manfred Lenz. Das Leben brauchte Hannah und Manfred Lenz nicht; nur sie, sie brauchten das Leben. Und Silke und Micha. Und Silke und Micha brauchten sie.
Der Leutnant ließ ihn mal wieder längere Zeit schmoren. Aber das beunruhigte Lenz nicht mehr. Er wusste inzwischen, dass er sich das Leben nur selbst schwer machte, wenn er auf jede Vernehmung wie ein Verdurstender auf einen Tropfen Wasser lauerte. Er konnte nichts tun, die Stasi führte hier Regie; Warten kann man lernen. Irgendwann würden sie ihn ja doch wieder holen müssen. Er war hier im Untersuchungsgefängnis, nicht im Strafvollzug; sie brauchten ihre Verwahrräume für neue Staatsverräter.
Als er das nächste Mal geholt wurde, war es sehr spät am Abend; es war schon lange finster hinter den Glasziegelsteinen. Doch war es ein glücklicher Abend: Er hatte seit Wochen zum ersten Mal Stuhlgang gehabt; die letzte starke Dosis Abführtabletten hatte geholfen. Was für eine Erleichterung! Als der Kugelkopf in der Tür stand, lächelte er ihn freundlich an. »Guten Abend!«
»Weshalb erstatten Sie keine Meldung?«, blaffte der nur.
»Hundertzwo-Zwo.« Lenz lächelte weiter. Die Kugelbirne hatte ja keine Ahnung, wie dankbar ein Mensch auch für die allerselbstverständlichsten Dinge sein konnte.
»Raustreten.«
Neugierig geworden trat Lenz vor seine Zelle. Eine Vernehmung um diese Zeit? In wenigen Minuten war Nachtruhe. Aber natürlich, er hatte ja schon des Öfteren nachts Schlüsselrasseln, Riegelklirren und schlurfende Pantoffelschritte gehört; jetzt hatte es also auch ihn mal erwischt.
Das Treppenhaus, der Vernehmerflur mit dem roten Teppich, die vertraute Tür. Er durfte eintreten – und fuhr zurück: Knut war nicht allein, ein schon etwas älterer, schwammig wirkender blonder Kerl mit farblosen, wässrig wirkenden Fischaugen und wulstigen Lippen, der an die freundlich-hinterhältigen Gestapobeamten aus Defa -Filmen erinnerte, saß neben dem Schreibtisch, rauchte eine Zigarette und blickte ihm interessiert entgegen. Beide
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