Krokodil im Nacken
Zeichner war. Russische Soldaten hatten das Flüchtlingskind aus einem zuvor von ihnen beschossenen Treck gezogen – als einzigen Überlebenden. Seinen Namen hatten ihm irgendwelche Leute gegeben – »Barsch« vielleicht, weil er so einen breiten Mund hatte; sein Alter geschätzt und einen Geburtstag bestimmt hatten Ärzte. Bäumchen hieß richtig Kurt Mandelbaum und war ein jüdischer Junge, dessen Eltern kurz nach seiner Geburt von den Nazis abgeholt und umgebracht worden waren. Eine verwitwete nichtjüdische Freundin der Mutter hatte das Baby zuvor zu sich genommen, als ihr eigenes Kind ausgegeben und bei sich behalten, bis sie vor drei Jahren starb. Bäumchen, klein, rundlich und schwarzhaarig, verehrte diese »Tante« wie einen Engel. In seinem Schrank hatte er eine Zigarrenkiste voller Fotos von ihr; eine eher unhübsche Frau mit einem großen Leberfleck am Kinn lächelte dem Betrachter entgegen. Für Bäumchen war sie die schönste Frau der Welt.
Zur »Heimprominenz« gehörte auch Pierre Manson, Franzose und Sohn eines verwitweten, international aktiven Kommunisten und ehemaligen Résistance-Kämpfers. Pierre schlief in Mannes Zimmer und seine Pubertät machte ihm schwer zu schaffen. Ständig fummelte er an seinem »Ügo« herum, als würde ihn das Ding piesacken; unter der Dusche wuschen er und Harry Löwe sich ihre »Ügos« über Kreuz, weil das aufregend war und mehr Spaß machte. Als Frau Lauffer, die ältliche, magere, großnasige Erzieherin der Gruppe, ihnen an einem Leseabend Kapitel aus dem Schwejk vortrug und sie alle in ihren weißen Nachthemden im Halbkreis vor ihr saßen, hatte Pierre, in der zweiten Reihe sitzend, mit einem Mal einen Ständer. Steil ragte sein »Ügo« unter dem Nachthemd in die Höhe. Er machte alle darauf aufmerksam und dann ließ er ihn wippen. Natürlich wieherten sie sofort los und Frau Lauffer freute sich, dachte die ehemalige Schauspielerin vom Deutschen Theater doch, so gut käme ihr Schwejk-Vortrag bei ihnen an.
Ebenfalls zur Prominenz gehörte das Budapester Brüderpaar, dessen Eltern in der ungarischen Botschaft arbeiteten, die beiden Schwestern aus dem Iran, deren Eltern im Widerstand gegen das Schahregime standen und ihre Kinder nach OstBerlin in Sicherheit gebracht hatten, und der junge Hesse aus Hanau, dessen Eltern – Mitglieder der im Westen verbotenen KPD – ihrem Sohn eine klassenkämpferische Erziehung angedeihen lassen wollten. Alle diese Vorzeigeexoten litten darunter, dass sie immer wieder irgendwelche Reporter durch das Heim führen mussten.
Mannes bester Freund aber wurde Ete Kern.
Ete war in dem Augenblick aus dem Tagesraum gekommen, als dem frisch eingelieferten Manfred Lenz gerade das Haus gezeigt wurde. Er war der erste Junge, mit dem er bekannt gemacht wurde. »Das ist der Erich, unser bester Schachspieler«, sagte die Kalinowski. »Vor kurzem ist er sogar in die Berliner Jugendauswahl berufen worden.«
Ete Kern sah gar nicht aus wie ein Schachspieler. Eher wie ein Leichtathlet. Nur mittelgroß war er, sehr breitschultrig und schmalhüftig. Sein blondes Haar war lockig, die hellen blauen Augen blickten ewig zur Seite, als wollte er nicht verraten, welche Gedanken ihn gerade beschäftigten. Die Nase stand ihm ein wenig schief im Gesicht, so als hätte er auch mal geboxt.
Sie begrüßten sich, trafen an diesem Tag aber nicht mehr zusammen. Begegneten sie sich jedoch an den folgenden Tagen, lächelten sie einander jedes Mal zu: Hallo! Wir kennen uns doch schon!
Beim Frühsport fiel Ete auf, weil er, ein guter Sportler, immer wieder deutlich zeigte, wie wenig Lust er auf solch morgendliches Treiben verspürte. Ansonsten verhielt er sich eher zurückhaltend.
Eines Nachmittags hatte Ete dann Kaffeedienst – jeden Nachmittag zur Kaffeezeit mussten zwei aus jeder Gruppe zwei Tabletts mit Marmeladenbrötchen aus der Küche holen – und sein Partner war aus irgendeinem Grund ausgefallen. Der junge Herr Boy, der gemeinsam mit Frau Lauffer die Gruppe leitete, fragte, wer einspringen wolle. Manne meldete sich und so zogen sie zum ersten Mal gemeinsam los.
Zuerst schwiegen sie beide verlegen, spürten wohl, dass sich da etwas Besonderes anbahnte. Als sie jedoch nebeneinander auf der Steintreppe zum Speisesaal saßen und ein Brötchen nach dem anderen verdrückten – es war üblich, dass der Kaffeedienst ohne Rücksicht auf die anderen erst mal alles wegfraß, was er verdrücken konnte –, kamen sie miteinander ins Gespräch: Wo kommst du her?
Weitere Kostenlose Bücher