Krokodil im Nacken
Hast du niemanden mehr? Was magst du am meisten? Was hältst du vom Heim, von den Erziehern, von Papa Reiser? Welches Mädchen gefällt dir am besten?
Ete war am Alexanderplatz aufgewachsen, sein Vater war im Krieg geblieben, die Mutter gestorben, als er zwölf war. Er hatte zwei verheiratete Schwestern, eine lebte im Westen, die andere im Osten, aufnehmen konnten sie ihn beide nicht; die eine hatte drei Kinder und nur eine Zweizimmerwohnung, die andere lebte mit Mann und Kind in einer Einzimmerwohnung. Das Heim betrachtete Ete eher neutral, manches gefiel ihm, vieles aber auch nicht. Papa Reiser war aus seiner Sicht ein bloßer Angeber. »Läuft rum wie einer vom Film, kuckt aber immer über alle hinweg. Da ist mir der Boy lieber. Mit dem kann man wenigstens reden.«
Schwierig war die Mädchenfrage. Da hatte Ete einen ganz besonderen Geschmack – er schwärmte von einem Mädchen aus Haus 1, das von allen Jungen wegen ihres ziemlich großen Kopfes nur H 2 O KOP 2 genannt wurde. Manne wusste, dass es bei einem Mädchen nicht nur auf das hübsche Gesicht oder die tolle Figur ankam, sondern auch auf den Charakter. Theoretisch gefiel ihm diese Einstellung ja auch, aber praktisch? Was konnte er dafür, dass es ihn eher zu den Hübschen hinzog?
Ete dachte da ganz anders. »Im Kern gut« mussten sie sein, die Menschen, mit denen er etwas anfangen konnte; die hübsche Hülle interessierte ihn nicht. Und so liebte er sein Fräulein Wasserkopf wirklich und litt darunter, denn das Mädchen mit dem großen Kopf glaubte ihm seine Liebe nicht, sondern vermutete, er wolle sie nur verspotten. Irgendwer musste ihr endlich mal sagen, dass das nicht stimmte; ob Manne vielleicht bereit war, diesen Freundschaftsdienst zu übernehmen? Ein Handschlag und die Sache war besiegelt.
Vielleicht hatte Manne Lenz es nur Ete Kerns Freundschaft zu verdanken, dass er schon nach kurzer Zeit zur Clique um Pierre, Harry Löwe, Picasso, Bäumchen und Ete gehörte, vielleicht aber auch seiner Bereitschaft, bei jedem Streich dabei zu sein.
Er war noch nicht lange im Heim, da ließen sie sich eines Nachts an der Regenrinne herab und schlichen ins Haus 1 hinüber, in die Große-Mädchen-Gruppe. Die Mädchen hatten wie immer ihren Flur besonders sorgfältig gebohnert. Wortlos und ohne zu kichern rieben sie sich ihre Schuhsohlen mit der aus der Schule mitgenommenen Kreide ein und marschierten danach – leise, leise, leise – minutenlang in dem blitzsauberen Flur auf und ab. Immer an den Türen vorbei, hinter denen die Mädchen schliefen. Als sie ihr Werk beendet hatten, sah der Linoleumfußboden aus, als wären zwanzig Fußballmannschaften darüber hinweggeschritten. Bei der Rückkehr ins Haus 3, die Regenrinne hoch, wurden sie dann erwischt: Hausleiter Johann Taube, fünfundvierzig, hager, dünne Lippen, bisschen sehr vorstehende Zähne, Topfschnittfrisur, riesige, wächsern wirkende Ohren, hatte sie schon erwartet. Gleich ließ er sie der Größe nach antreten und im Laufschritt in die Heizung abrücken; Kohlen schippen, die ganze Nacht: »Was wirkt am besten gegen Schlaflosigkeit? Ehrliche Arbeit!«
Ein andermal bestraften sie Witt-witt, einen schmalen, blassen Jungen, der irgendwann einmal SED-Funktionär werden wollte und sich in allem, was die richtige politische Linie betraf, schon jetzt sehr ehrgeizig und überzeugt zeigte, indem sie etwas Braunes auf die Klinke der Tür schmierten, durch die er gleich kommen musste. Der Junge, der sie zuvor als Pionier vom Dienst böse schikaniert hatte, griff in dieses Braune und dachte wohl erst, dass es Schuhwichse war, die da jemand in dünner, unauffälliger Schicht auf die Türklinke gerieben hatte. Kaum hatte er daran gerochen, wusste er, dass er sich geirrt hatte. In Panik stürzte er in den Waschraum und wusch sich eine halbe Stunde lang die Hände. Sie dachten, Witt-witt würde sich vielleicht schämen, in Scheiße gegriffen zu haben, und deshalb keine Meldung erstatten, doch da hatten sie sich geirrt. Die gedemütigte Hand anklagend erhoben, marschierte Witt-witt in Taubes Büro. Wie aber hätten die beiden Detektive herausfinden sollen, wer der Übeltäter war? Konnte man denn mit labortechnischen Mitteln nachweisen, dass diese Scheiße einen französischen Akzent hatte?
Wieder ein anderes Mal ging es mit einem zum Dietrich gebogenen Draht in den Klubraum des Hauses und von dort durchs ausgehebelte Schiebefenster in das Wirtschaftszimmer mit den Bonbontüten. Doch natürlich interessierten sie
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