Krokodil im Nacken
die Arbeiterkinder. Wie unsere Wirtschaft funktioniert und wir morgen leben, wird aber auch vom Bildungsstand der Bevölkerung mitbestimmt.«
Ein Versuch, sie anzufeuern, der misslang. Es war in der Heimschule wie in allen anderen Schulen: Wer Lust am Lernen hatte oder leicht kapierte, war ein guter Schüler; wer keine Lust hatte oder schwer kapierte, ein schlechter. Manne machten nur Deutsch und Geschichte Spaß.
Nach der Schule oder auf Ausflügen fanden hin und wieder Geländeübungen statt; eine Art vormilitärischer Ausbildung mit Kompass und Karte. Während einer dieser Übungen wurde Manne Lenz ein Kleinkalibergewehr in die Hand gedrückt. Als er verdutzt aufblickte, hieß es, was er denn habe, vor den Imperialisten müsse man nun mal auf der Hut sein.
Jeden Sonnabendnachmittag war Hausappell. Alle Dienste mussten tipptopp erledigt sein und die Gruppe im Flur der Größe nach antreten. Betrat der Hausleiter den Flur, rief der Gruppenpionier vom Dienst: »Achtung! Stillgestanden!«, und erstattete Meldung: »Gruppe vollzählig angetreten!«, oder auch mal: »Gruppe bis auf zwei Jungen vollzählig angetreten. Jürgen Frühwerth liegt auf der Krankenstation, Andreas Schulz ist zu Dreharbeiten bei der Defa .« Die Filmgesellschaft Defa liebte es, sich ihre jugendlichen Hauptdarsteller aus dem Heim zu holen; hier fand man jede Menge sehr ausgeprägte Gesichter.
Bevor dann der Kontrollgang angetreten wurde, hieß es »Rührt euch!«, und dann durften sie etwas lockerer stehen und das jedes Mal wie ein Damoklesschwert über ihnen hängende Urteil abwarten. Hatte einer seinen Dienst nicht ordentlich genug erledigt, verschwand der Hausleiter mitsamt seinem Gefolge von Dienst habenden Pionieren in die nächste Gruppe, und alle mussten im Flur ausharren, bis der Schlamp seine Arbeit noch einmal ausgeführt und ein zweiter, manchmal auch dritter Kontrollgang die strengen Richter zufrieden gestellt hatte. Notfalls wurden Ausgangs- oder Urlaubssperren verhängt.
Es gab Pioniere vom Dienst, die waren schärfer als alle Erzieher und fanden mit sicherem Gespür jede Schmutzecke. Der Hass, der ihnen dafür von allen Seiten entgegenschlug, störte sie nicht. Manch einer war ansonsten ein ganz netter Kerl, erst die Funktion machte ihn zum Schnüffelhund; andere waren ganz einfach nur Idioten, die sich bei den für sie zuständigen Göttern anbiedern wollten.
Aber natürlich: Alle erteilten Strafen waren »in Wahrheit« nur Maßnahmen zur Stärkung des Kollektivbewusstseins. Offiziell gab es überhaupt keine »Strafen«, sondern nur sozialistische Erziehungsmaßnahmen. Das Gleiche galt für die zahlreichen Verbote.
Verboten war, sich ohne zu fragen von der Gruppe zu entfernen oder über den Rasen zu gehen – bei Nichtbeachtung des Rasenverbots fünfzig Pfennig Taschengeldentzug, was bei nur zwei Mark vierzig im Monat richtig wehtat. Verboten war, beim Essen zu reden oder beim Sitzen einen Buckel zu machen, nicht die Wahrheit zu sagen, die Anordnungen der Erzieher und Erzieherinnen nicht zu befolgen oder gar zu rauchen. Wurde man bei Letzterem erwischt, etwa in der kleinen Schonung gleich neben dem Wirtschaftsgebäude, war das gesamte Taschengeld futsch. Verboten war, sich vor Exerzierübungen zu drücken, beim Fahnenappell zu lachen oder im Tagesraum herumzutoben. Verboten war, im Klubraum des Hauses, der nur zu bestimmten Anlässen geöffnet wurde, am Radio zu drehen – es könnte ja versehentlich ein Westsender eingestellt werden –, die Mittagsruhe nicht einzuhalten oder sich vor der gemeinsamen Erledigung der Schulaufgaben zu drücken. Den Jungen war verboten, sich in den Räumen der Mädchen, den Mädchen, sich in den Räumen der Jungen aufzuhalten. Es war verboten, über das Essen zu meckern oder irgendeinen Ratschluss der Götter infrage zu stellen, es war verboten, es war verboten. Nicht verboten werden konnte den Jungen und Mädchen, sich über all diese Verbote ihre Gedanken zu machen.
Es hätten schlimme anderthalb Jahre für Manne Lenz werden können, hätte er nicht bald jede Menge Freunde gefunden; Jungen, mit denen er reden und immer wieder gemeinsam etwas anstellen konnte; Jungen, die oft ein weit schlimmeres Schicksal hinter sich hatten als er, wie zum Beispiel Picasso oder Bäumchen.
Der lange, bilderbuchblonde Picasso hieß eigentlich Peter Barsch und war schon sechzehn, hockte aber noch immer in der siebten Klasse, weil ihm das Lernen schwer fiel. Picasso wurde er genannt, weil er so ein guter
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