Krokodil im Nacken
nicht die Bonbons; die wurden nur mitgenommen, damit der Einbruch einen Sinn hatte. Der Nervenkitzel war die Verlockung. Wäre herausgekommen, wer die Einbrecher waren, wären sie wohl allesamt aus dem Heim geflogen und jeder in ein anderes, nicht so vorzeigbares eingewiesen worden. Aber Taube tappte mal wieder im Dunkeln. Selbst wenn er die Polizei gerufen hätte, wie hätte man die Täter finden sollen? Als Profis hatten sie natürlich Handschuhe getragen.
Noch krimineller war der Einbruch ins Erzieherzimmer, den Ete und Manne in eigener Regie unternahmen, um mal in aller Ruhe ihre Akten lesen zu können. »Manfred ist sehr groß und kräftig, die Mädchen schauen schon nach ihm«, hatte die Lauffer über ihn eingetragen. Manne hatte noch gar nicht bemerkt, dass er solchen Eindruck auf Mädchen machte; jetzt hatte er es schriftlich. Nur schade, dass er es nirgendwo herumzeigen konnte. Aber immerhin: Mal kucken, wer da so alles kuckte!
Ete freute sich nicht über das, was er zu lesen bekam. Da stand irgendwas von Verschlossenheit und Unaufrichtigkeit, passt sich nicht der Gemeinschaft an, steht außerhalb des Kollektivs. Die Lauffer war ja ganz nett, aber Ahnung hatte sie keine.
Dieser Einbruch ins Allerheiligste blieb zum Glück gänzlich unbemerkt, so sauber hatten die Gangster gearbeitet. Ein harmloser nächtlicher Ausflug ins sommerlich brühwarme Planschbecken des Heimes hingegen hatte unangenehme Folgen. Sie wurden von Herrn Boy, der Nachtwache hatte, entdeckt und gleich dem Hausgott Taube gemeldet. Zur Strafe mussten sie im Flur antreten und dort zu sechst die halbe Nacht lang stehen bleiben. Bis ihnen die Beine wegknickten.
In der Königsheide gab es einen Heimrat der Kinder und einen Heimratsvorsitzenden – Papa Reisers Apostel –, es gab einen Hausrat und einen Hausratsvorsitzenden und in jeder Gruppe einen Gruppenrat und einen Gruppenratsvorsitzenden. Tagte der Heimrat, der Hausrat oder der Gruppenrat, hagelte es Kritik und Selbstkritik; keine Tagesordnung, auf der die Forderung nach politischer Bildung nicht ganz oben stand.
Alte Kommunisten kamen ins Heim und erzählten vom Widerstand gegen die Nazis, während einer Ferienreise nach Thüringen besuchten sie das KZ Buchenwald. Vorträge wurden gehalten, Filme gezeigt, Lesezirkel abgehalten, antifaschistische Lieder einstudiert, in der Bibliothek Bücher mit erzieherischem Wert verliehen. Stand ein 1. Mai bevor, wurden Exerzierübungen angesetzt. Damit man sich nicht blamierte, wenn man im Marschblock über den Marx-Engels-Platz marschierte.
Immer den breiten Hauptweg entlang ging es, von der Schule bis zum Eichhörnchen-Tor und wieder zurück. Die Trommler trommelten, die jungen Kehlen schrien heraus, was sie an Liedern der internationalen Arbeiterbewegung einstudiert hatten: »Avanti popolo, alla riscossa, bandiera rossa, trionferá!«, die Warschawianka , Der kleine Trompeter , Die Partisanen vom Amur , »Bella ciao, Bella ciao, Bella ciao, ciao, ciao!« und immer wieder »Wir sind die junge Garde des Pro – leta – riats«.
Am Tag der Tage wurde vorneweg ein riesiges Transparent mit der Aufschrift Kinderheim Königsheide getragen, dahinter eine ellenlange Losung: Es lebe der 1. Mai, der internationale Kampftag der Werktätigen der ganzen Welt für Frieden, nationale Unabhängigkeit, Demokratie und Sozialismus. Drei Reihen dahinter, ein wenig kleiner: Junge Pioniere und Schüler! Lernt besser! Seid bereit für Frieden und Völkerfreundschaft!
An den Losungen hatte Picasso lange gepinselt, der Heimrat hatte sie unter denen, die von der Partei vorgegeben waren, ausgewählt. Selber welche zu erfinden war nicht erlaubt. Hinter den Losungen her marschierten erst die Fahnen – dann die Wimpelträger. Alle hoch gestimmt in ihrer Pionierkluft mit den gerade erst neu ausgegebenen hellen Shorts, weißen Hemden und blauen Halstüchern. Eine Stimmung, die auch auf Manne überschlug, wenngleich er sich darüber lustig machte und den Wimpel, den man ihm in die Hand gedrückt hatte, öfter mal unwürdig schwenkte. In den Jahren zuvor, in seiner alten Schule, hatte er sich immer geweigert, eine Fahne oder einen Wimpel zu tragen; mit so einem Ding in der Hand konnte man sich schwerlich verdrücken. Als Heimzögling war das was anderes, da konnte er sowieso nirgendwohin verschwinden; alle gemeinsam waren sie hergefahren, alle gemeinsam würden sie ins Heim zurückkehren.
Zwischen Pierre und Witt-witt marschierte er während seiner ersten Maidemonstration
Weitere Kostenlose Bücher