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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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mit dem Heim. Eine Lautsprecherstimme verkündete die großen Erfolge der Werktätigen und begrüßte immer wieder die Genossen aus Partei und Regierung, die in zumeist hellen, schulterwattierten Anzügen auf der Tribüne standen und weihevoll winkten. Als sie unter ihnen vorbeimarschierten, brach Witt-witt in Hochrufe aus und alle anderen fielen mit ein. Hatte in diesem Augenblick nicht jeder von ihnen das Gefühl, dass die Augen von Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl direkt auf ihn gerichtet waren? Kaum waren die Hochrufe verstummt, verdammte der eingeübte Sprechchor den imperialistischen Feind im Westen als Kriegstreiber und Ausbeuter. Ein Parolengewitter, für das Manne sich schämte. Was wohl die Mutter dazu gesagt hätte! Oder Onkel Ziesche!
    Vor und hinter dem Kinderheim marschierten Bergarbeiter, Männer und Frauen aus den verschiedenen Industriebetrieben, Bauarbeiter, Volkspolizisten, LPG-Mitglieder, Krankenschwestern, Ärzte, Sportler, FDJler. Traktoristen führten ihre Traktoren vor, Turner bildeten menschliche Pyramiden, kurz berockte junge Frauen in Rhönrädern rollten an der Tribüne vorüber. Jede Gruppe wurde über Lautsprecher begrüßt, als wären siegreiche römische Legionen heimgekehrt; die so freundlich Aufgenommenen winkten mit roten Nelken, Halstüchern und Hüten zurück.
    Fünf Jahre zuvor war auf eben diesem Platz noch »Der Spitzbart muss weg!« gerufen worden, jetzt wurde der »Spitzbart« als größter Friedenskämpfer Deutschlands gefeiert. Waren die, die dem Ulbricht so lautstark zujubelten, etwa die Gleichen, die ihn damals weghaben wollten?
    Manne wurde ein komisches Gefühl nicht los, das sich ein paar Tage später, als Pierre ihm ein Foto überreichte, auf dem zu sehen war, wie er im Marschblock mitmarschierte, noch verstärkte. Verwandte von Pierre, zu Besuch in Berlin, hatten es gemacht und ihm einen Abzug für seinen auf dem Foto so fröhlich lächelnden Freund mitgegeben. Die Mutter hatte nicht gewollt, dass ihr Manni bei diesen neuen »Marschierern und Trompetern« mitmachte, er aber hatte sich darüber hinweggesetzt. Weil die Mutter tot war und er lebte. Weshalb sollte er denn immer der Benachteiligte sein? Ging die Gruppe am Nachmittag irgendwohin – Kino, Fußballspiel, Jugendtheater –, hieß es stets: »Nur die Jungen Pioniere!« Selbst am Tag des Kindes, an jedem 1. Juni, feierlicher Höhepunkt im Heim, wenn zuvor Tänze einstudiert worden waren, Spiele stattfanden und Bonbons und Luftballons verteilt wurden, wurden die wenigen Nicht-Pioniere zwar nicht ausgeschlossen, aber doch wie ungebetene Gäste behandelt. Wie hätte die Mutter denn ahnen sollen, dass er sich jemals in einer solchen Zwickmühle befinden würde? Mit einem schlechten Gefühl in der Brust hatte er sich zusammen mit vielen kleinen Kindern und ein paar anderen Spätüberzeugten im großen Speisesaal feierlich zum Thälmann-Pionier weihen lassen. Das blaue Pioniertuch war ihm überreicht worden, er hatte die Bedeutung jeder der drei Tuchecken aufsagen müssen, dann wurde es ihm umgeknüpft. »Seid bereit!«, lautete der Pioniergruß, die Antwort: »Immer bereit!«
    Er war nicht blöd, er wusste, was da passiert war: Sie hatten Manne Lenz die Wurst hingehalten und Manne Lenz hatte Männchen gemacht. Doch hätte er als Einziger in der Gruppe auf die Wurst verzichten sollen? Trägst du ihr Halstuch, ihr Hemd, ihre Abzeichen, sind sie zufrieden mit dir und du bleibst nicht allein. Deshalb musst du ihnen noch lange nicht alles glauben.
    Und er glaubte ihnen ja auch nicht alles. Das Beobachten und Sich-Gedanken-Machen, das er in Mutters Kneipe gelernt hatte, er setzte es auch hier fort. Die Frau Lauffer zum Beispiel. Wie gern erzählte sie, sie habe allein aus humanistischer Überzeugung im Heim angefangen. Nur weil sie jungen Menschen helfen wollte, den richtigen Weg zu finden, habe sie die Schauspielerei aufgegeben. Wie aber vertrug sich dieser Wunsch mit dem, was sie hier erlebte? Wie konnte sie sich mit Schwejk über das Militär lustig machen und gleichzeitig Kinder wie Soldaten strammstehen lassen?
    Der junge Herr Boy war ja ein netter Kerl, doch ging es ihm vor allem darum, Zwischenfälle zu vermeiden. Alles musste klappen, damit er nach Dienstschluss beruhigt zu Frau und Kind nach Hause hasten konnte. Durfte man denn zur Kindererziehung wie ins Büro eilen?
    Und Hausgott Taube? Der war überhaupt kein »Erzieher«; der war nur Funktionär. Beim Nachtappell blieb er einmal vor Mannes

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