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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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Bett stehen, sah ihn aufmerksam an und fragte plötzlich: »Was ist Mut?«
    »Mut ist, wenn man vor etwas Angst hat und es trotzdem tut.« Das war es, was der Taube hören wollte; für Manne kein Problem, ihm diesen Gefallen zu tun.
    »Ist das alles?«
    »Es muss sich um eine sinnvolle, der Menschheit nützende Tat handeln.«
    »Richtig!« Die weit auseinander stehenden Zähne wurden sichtbar, die riesigen Ohren hoben sich. »Und wer oder was ist der Staat?«
    »Der Staat sind wir alle.«
    »Kannst du uns das näher erläutern?«
    »Der Staat sind wir alle, weil wir geschaffen haben, was uns gehört.«
    »Glaubst du das auch – oder sagst du das nur, weil du weißt, dass ich das hören will?«
    Pierre, Harry Löwe, Pampel, Bäumchen und Witt-witt, aufrecht saßen sie in ihren Betten und starrten Manne an. Was würde er antworten?
    »Ich glaube es.«
    »Also arbeiten die Menschen in unserem Land, um dem Staat zu nützen?«
    »Auch.«
    »Aha! Und warum noch?«
    »Na, damit se Miete zahlen, Lebensmittel kaufen und in die Ferien fahren können.«
    »Und was ist für den Menschen bedeutsamer – der eigene Nutzen oder der des gesamten Volkes?«
    »Der des gesamten Volkes natürlich! Geht’s allen gut, geht’s ja auch dem Einzelnen gut.«
    »Bravo!« Ein aufmerksamer Blick in die Runde. »Na, vielleicht werdet ihr eines Tages ja doch noch brauchbare Mitglieder unserer sozialistischen Gesellschaft.«
    Sie nickten erlöst, weil sie dachten, damit hätten sie den Appell hinter sich, Johann Taube aber war noch nicht fertig. In aller Ruhe kontrollierte er ihre Schränke, schimpfte mit Bäumchen, in dessen Schrank es wieder mal wie bei einer französischen Nutte aussehe – »außen hui, drunter pfui!« –, und spazierte danach von Bett zu Bett, um einem nach dem anderen ins Gesicht zu sehen und jeden mindestens einen der von Walter Ulbricht persönlich verfassten zehn Punkte der neuen, sozialistischen Moral aufsagen zu lassen. Zehn Mal »Du sollst«.
    Pierre, der den Vergleich mit der französischen Nutte nicht so gut fand – es hätte ja auch eine deutsche sein können, oder waren die überall pfui? –, kam als Erster dran, obwohl Witt-witt natürlich alle zehn Punkte in zehn Sekunden hätte herunterrattern können. »Du sollst dich stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse und aller Werktätigen sowie für die unverbrüchliche Verbundenheit aller sozialistischer Länder einsetzen«, deklamierte er mit beleidigtem Gesicht.
    Harry, ein groß gewachsener Junge, der in seiner Freizeit an einem Kriminalroman schrieb: »Du sollst dein Vaterland lieben … und … und … und stets bereit sein, deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter- und Bauernmacht einzusetzen.«
    Pampel, der sich selbst ins Heim eingeliefert hatte, weil er mit seinen Eltern nicht mehr klargekommen war: »Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen.«
    Bäumchen: »Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen … und … äh, äh …«
    Taube winkte ab und nahm endlich Witt-witt ran. Der wusste, dass die guten Taten für den Sozialismus zu einem besseren Leben aller Werktätigen führten, und durfte auch gleich noch die Gebote 5 bis 9 aufsagen, in denen es um gegenseitige Hilfe, kameradschaftliche Zusammenarbeit, den Schutz des Volkseigentums, sozialistische Arbeitsdisziplin, Kindererziehung und Sauberkeit in der Familie ging.
    Gebot Nr. 10 blieb Manne Lenz vorbehalten: »Du sollst Solidarität mit den um ihre nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben.« Er wusste den Text nicht wörtlich, sinngemäß aber stimmte, was er sagte.
    Taube war zufrieden. »Das, meine Herren, die Sie noch keine Damen neben sich liegen haben dürfen, steckt dahinter, wenn wir von unserem Staat reden. Wir sind nämlich nicht irgendein Staat, in dem es Regierende und Regierte gibt, bei uns regiert mit, wer sich für uns einsetzt.«
    Sie nickten mal wieder und Manne musste an den Konfirmandenunterricht in seiner alten Schule denken. War der Sozialismus vielleicht so etwas wie eine neue Religion? Wollte Walter Ulbricht ein zweiter Moses werden?
    Hausleiter Taube sagte noch, dass diese zehn Punkte für jeden galten, angefangen beim Schulkind in der ersten Klasse, endend erst beim obersten Staatsfunktionär, dann war der Appell beendet. Drei Monate später wurde Johann Taube aus dem Heimdienst entlassen. Dass er bei den Jungen nach dem

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