Krokodil im Nacken
Messer.
Manne: »So kann man doch nicht leben. So vegetiert ein Hausschwein.«
Ete: »Was soll ich mit deinen Spinnereien? Bin kein Goethe, kein Einstein und kein Caruso. Schlicht und einfach und im Kern gut, das ist schön!«
Auch über ihren Mädchengeschmack konnten sie sich nach wie vor nicht einigen. Manne hatte mit H 2 O KOP 2 gesprochen, ein paar Wochen war Ete mit ihr gegangen, dann hatte sie mit ihm Schluss gemacht. Sie mit ihm! Fräulein Wasserkopf mit dem besten Schachspieler des Heimes, Berliner Jugendauswahl sogar, im 100-Meter-Sprint 10,9! Und Ete trauerte ihr immer noch nach! Nein, mit den Mädchen, die Ete gefielen, konnte Manne nichts anfangen. Umgekehrt genauso: »Du und deine Märchenfeen! Wenn die aufs Klo gehen, stinkt’s auch.«
Wie hielten sie es nur so lange miteinander aus? Wie konnte ihre Freundschaft unter diesen Umständen immer noch wachsen? Sie wussten es beide nicht. Nach jeder durchdiskutierten Nacht waren sie tags darauf wieder die allerbesten Freunde. Streiche zu fünft, sechst oder siebt waren nun nicht mehr ihre Sache. Was sie jetzt des Nachts unternahmen, waren Ausbruchsversuche aus der Enge ihrer Welt; die funktionierten nur zu zweit. Praktischerweise schliefen sie ja nun im Erdgeschoss. Oft, wenn die Nachtwache die erste Runde gemacht hatte, griffen sie zu einem alten, leider nur selten funktionierenden Trick: Sie formten aus Bettzeug und Kissen zwei schlafend unter der Bettdecke zusammengeringelte Gestalten, kleideten sich an, stiegen durchs Fenster, zogen es von außen an den Rahmen heran, liefen zur Schonung, kletterten über den Zaun – und waren weg.
Anfangs ging es nur bis Baumschulenweg. Die belebte Baumschulenstraße rauf und runter, den dicken Mohairschal um den Hals, Etes Kofferradio im Arm: Heute Nacht muss was passieren! Es passierte nichts. Auf dem Rückweg, wenn sie bei Vollmond ihre Schatten an der Friedhofsmauer sahen, trösteten sie sich: Was hatten sie für Schultern, was waren sie für Kerle.
Als ein Weilchen alles gut gegangen war, zogen sie größere Kreise. Da stiegen sie in Schöneweide in die S-Bahn, fuhren nach Treptow und liefen über die Schlesische Brücke nach WestBerlin hinüber. Die vielen Kinos rund ums Schlesische Tor zogen sie an. Nachtvorstellung in der bunten Neonröhrenstadt. Die Geliebte eines Arztes, Die Verführten, Die Saat der Gewalt hießen die Filme, die sie sich ansahen. Letzterer war ein realistischer amerikanischer Film über Jugendprobleme. Titelmusik Rock around the clock . Ein Film wie ein Tritt in den Bauch: New Yorker Slums, Jugendliche, die brutal den Aufstand probten, ein Lehrer, der sich um diese Jugendlichen bemühte. Der Film erschütterte sie, über den redeten sie wochenlang. Und noch länger sangen sie den Titelsong: »One, two, three o’clock, four o’clock, rock! Five, six, seven o’clock, eight o’clock, rock!«
Manchmal stießen sie während dieser Ausflüge auf andere Jungen aus dem Heim. Dann gab es jedes Mal ein lautes Hallo und viel Gelächter. Einmal jedoch traf Manne seinen Baumschulenweger Musiklehrer. Er hatte mit ihnen das Solidaritätslied, Die Thälmann-Brigade und Du hast ja ein Ziel vor den Augen einstudiert. Nun hatten sie sich vor den Augen. Besuche in WestBerlin, besonders in WestBerliner Kinos, waren nicht erwünscht. Das galt für die Schüler und erst recht für die Lehrer. Der ewig blasse Mylius lächelte nur stumm, in seinen Augen stand zu lesen: »Nicht wahr, ich hab Sie nicht gesehen und Sie haben mich nicht gesehen?«
Tags darauf, in der Schule, lächelte Manne genauso stumm zurück: »Ich hab noch nie jemanden gesehen, der nicht gesehen werden wollte.«
Klappte ihr Bettentrick nicht, war das auch nicht tragisch; es wusste ja niemand, wo sie waren. Zweimal flogen sie im Sommer auf. Beim ersten Mal erzählten sie, sie hätten vor Hitze nicht schlafen können und sich mal wieder im Planschbecken abgekühlt. Eine Ausrede, die glaubhaft wirkte, waren jene nächtlichen Badespäße – Jungen und Mädchen, was da alles passieren konnte! – doch strengstens untersagt. Gegen eine Nachtfahrt in den Westen allerdings war solch ein verbotenes Planschvergnügen nur ein Schneckenschiss. Strafe: vier Wochen Ausgangssperre. Ein Witz! Sie mussten ja zur Schule und in die Werkstatt; wer wollte kontrollieren, ob sie immer pünktlich heimkamen? Und galt die Ausgangssperre denn etwa auch nachts?
Beim zweiten Mal gaben sie an, es hätte sie in die nahen Laubenkolonien gezogen, Kirschen futtern.
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