Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
abreißen wollenden Ansturms mit zunehmender Dauer anstrengte und seine Kräfte allmählich nachließen. Die Kriecher schienen die nachlassende Stärke des Bewahrers instinktiv zu spüren oder sie rochen den Schweiß und die Anstrengung. Womöglich witterten sie ihre Gelegenheit und steigerten daher die Vehemenz ihrer Angriffe. Andererseits hatte Madhrab zuletzt den Eindruck gewonnen, dass sich die Masse an Kriechern endlich langsam, aber sicher lichtete. Deshalb konnte es durchaus sein, dass sie mit dem Mut der Verzweiflung gegen eine drohende Niederlage und ein anfangs als sicher geglaubtes Opfer kämpften. Diese Feststellung verschaffte ihm noch einmal neuen Auftrieb. Würde er nur lange genug durchhalten, konnte er eine erste große Gefahr für sich und die beiden Ordenshäuser abwenden. Aber was kam danach? Die Bluttrinker waren stark und überraschend gut vorbereitet. Offensichtlich wollten sie ihn ablenken und seine Kräfte binden, um an anderer Stelle ungehindert zuschlagen zu können. Warum sonst sollten sie ausgerechnet ihm die Kriecher auf den Hals hetzen? Sie mussten wissen, dass er dem Fußvolk der Bluttrinker genug entgegensetzen konnte, um ihnen empfindliche Verluste beizubringen oder sie gar endgültig zu überwinden. Die meisten Bewahrer wären hierzu in der Lage gewesen.
Ein scharfer, schriller Befehlsruf gellte schmerzhaft in den Ohren des Lordmasters und übertönte den tosenden Schlachtenlärm, wogegen sogar die Schreie und das winselnde Gejammer der Kriecher wie Musik klang. Erstaunt beobachtete Madhrab, wie sich die Kriecher plötzlich von ihm zurückzogen. Sie knurrten und fletschten dabei die Zähne, als wäre ihnen der Rückzug aufgezwungen worden und höchst zuwider. In einem Abstand, in dem sie sich außerhalb der Reichweite des Blutschwertes befanden, kauerten sie sich geduckt auf allen vieren nieder und lauerten missmutig und hungrig auf die nächste Gelegenheit, den Bewahrer angreifen zu dürfen. An anderer Stelle, in einer von der Mauer und dem äußeren Tor wegführenden Richtung, öffnete sich plötzlich eine Gasse durch die rasch auseinanderdrängenden Leiber der Kriecher.
Madhrab überlegte, ob er die sich überraschend bietende Möglichkeit nutzen und Najak andeuten sollte, den Weg durch die Gasse zu suchen. Bevor er den Gedanken zu Ende geführt hatte, musste er jedoch feststellen, dass die Kriecher nicht freiwillig gewichen waren und den Weg keineswegs für ihn frei gemacht hatten.
Am Ende der Gasse, deren Begrenzung ausschließlich aus Kriechern bestand, hatte sich ein blasses Mädchen in einem weißen Gewand aufgestellt und starrte erwartungsvoll zu dem Lordmaster auf seinem Ross. Madhrab schätzte das Mädchen auf höchstens zwölf, vielleicht dreizehn Sonnenwenden. Sie war hübsch, aber die starke Blässe, die bläulich gefärbten Lippen und die dunklen Ringe unter den ansonsten blutunterlaufenen Augen machten diesen ersten Eindruck rasch wieder zunichte. Der Lordmaster fragte sich, wer dieses Mädchen wohl sein mochte. Schickte ihm Quadalkar nun bereits Kinder, um seine Leidensfähigkeit zu prüfen? Wenn sie ihn angreifen sollte, würde er sie töten, gleichgültig ob sie Frau oder Kind war. Sie war ohne Zweifel eine Bluttrinkerin, die einen erheblichen Einfluss auf die Kriecher ausübte. Das Mädchen hatte Macht, das konnte er auf die zwischen ihnen liegende Distanz spüren. Er konnte allerdings nicht einschätzen, wie viel Macht sie besaß. Noch nicht.
Langsamen Schrittes bewegte sich das Mädchen die Gasse entlang. Auf ihrem Gewand konnte der Lordmaster Blutspritzer erkennen. Um den Mund und am Kinn war sie rot verschmiert. Es war unschwer zu erkennen, dass sie sich erst kurz zuvor am frischen Blut eines Opfers genährt hatte. Ihr Blick suchte den Kontakt mit den Augen des Bewahrers. Neugierig hielt Madhrab ihrem Blick stand und spürte sofort ihre Gegenwart in seinen Gedanken. Das also war es, was die Bluttrinker so gefährlich machte. Sie versuchten sich ihres Gegenübers durch Blicke zu bemächtigen, indem sie anschließend in deren Köpfe eindrangen und ihre Opfer beeinflussten, deren Willen brachen und durch eigene Gedanken steuerten. Sie pflanzten ihnen Bilder des Schreckens ein, schickten ihnen dunkle Träume, machten sie gefügig und verführten ihre Beute. Der Lordmaster bekam eine Vorstellung davon, wie sich der Fluch der Bluttrinker anfühlen musste, wenn die Verwandlung vollzogen wurde. Zunächst bildete sich eine Leere, die sich nur langsam mit den
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