Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
übernehme ich das Ruder.«
Murhab legte die Gayaha schräg in den Wind und nahm Geschwindigkeit auf. Die Masten bogen sich gefährlich und die Segel drohten jeden Moment zu reißen. Aber der Skipper lachte und jauchzte, als sie über einen Wellenkamm schossen und abhoben. Hart krachte das Schiff auf den Bug. Ein Matrose verlor den Halt und fiel aus der Höhe der Masten auf das Deck. Die nächste Welle nahm ihn mit sich und riss den leblosen, zerschmetterten Körper von Bord.
Elischa klammerte sich an eine Kiste. Vergessen war die Übelkeit, die von der Angst überflügelt wurde. Chromlion stürzte durch die Kajüte und schlug fluchend mit dem Kopf an die Wand. Die Schattengestalt übte sich in Gelassenheit und stimmte in das Gelächter des Kapitäns mit ein.
»Das nenne ich Wahnsinn«, rief das Gefäß entzückt, »dieser Mann weiß, die Schatten herauszufordern.«
Ruhig glitt die Gayaha über das Ostmeer durch die Dämmerung dahin. Elischa hatte sich an Deck begeben und hielt sich an der hölzernen Reling fest. Ihre Knie zitterten immer noch und die Arme schmerzten. Obwohl sie durchnässt war und ihr Haare und Kleidung kalt am Körper klebten, fühlte sie sich besser. Tief und erleichtert atmete sie die frische Seeluft ein und beobachtete die Matrosen und den Skipper bei der Arbeit. Das lenkte sie von den düsteren Gedanken ab, die sie seit Anbeginn der Reise plagten.
Ein schmaler Lichtstreifen zeigte sich für einen kurzen Augenblick am Horizont, durchbrach das Dämmerlicht und erregte die Aufmerksamkeit des Skippers. Gedankenverloren strich er sich über den langen, vor Wasser triefenden Bart, als die Dunkelheit nur wenig später das Licht wieder verdrängte. Der Gewittersturm hatte sich gelegt und das Wasser sich beruhigt. Murhab wanderte, von den Blicken Elischas neugierig verfolgt, über Deck und begutachtete die Schäden.
Kann dieser verwegene Mann vielleicht helfen, mich aus den Händen meiner Entführer zu befreien?, fragte sie sich im Stillen.
Lediglich zwei Segel waren gerissen und mussten ersetzt werden. Die Masten hatten jedoch gehalten. Der Skipper brummte zufrieden in seinen Bart.
Sie waren weit gekommen, hatten den Kurs gehalten und waren nahe an die Felsenküste herangetrieben worden, deren Klippen sich wie eine unüberwindliche Mauer steil aufragend und schwarz über das Meer hinaus abhoben. Der Sturm hatte sie nur acht Leben gekostet, rechnete er den von Chromlion erschlagenen Matrosen hinzu. Ein herber Verlust zwar, aber es hätte sie ob der Heftigkeit des Sturms weit schlimmer erwischen können.
Murhab trat an die Seite Elischas und ergriff das Wort.
»Ihr seid nicht zu beneiden«, sagte der Skipper offen, »Eure Begleiter führen nichts Gutes im Schilde. Wirklich schade um so eine schöne Frau, wie Ihr es seid. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr eine Magd seid.«
»Das bin ich nicht«, gab Elischa zu. »Der Bewahrer und dieses fürchterliche untote Geschöpf des Schattens haben mich, eine Orna, entführt.«
»Ein Bewahrer entführt eine Orna?« Murhab zog überrascht die Augenbrauen hoch, »das müsst Ihr mir erklären. Ich muß zugeben, mein Wissen über die Orden reicht nicht gerade weit, aber ich dachte, die Bewahrer schwören einen Eid, die Orna zu schützen.«
»Das stimmt«, seufzte Elischa, »aber dieser Bewahrer ist anders. Mit dem Ende des Krieges gegen die Rachuren und dem Heraufziehen der Zeit der Dämmerung hat sich einiges verändert. Die alten Regeln stehen auf dem Kopf. Es scheint, als könnten wir uns auf nichts mehr verlassen, was einst festen Bestand auf Kryson hatte.«
»Doch …«, widersprach der Skipper, »… das Gesetz und die Magie der See sind unveränderlich. Ihr könnt mir glauben, wir hätten den Sturm nicht überlebt, würde ich mich täuschen. Auf jeden Sturm folgt eine Flaute, so wie am Ende eines Lebens der sichere Gang zu den Schatten steht.«
»Seid Ihr Euch dessen wirklich sicher?«, fragte Elischa. »Ich habe zu viel gesehen, um noch Gewissheit zu haben. Die Toten erheben sich aus den Schatten und kehren zurück in die Welt der Lebenden. Das Licht der Sonnen verschwand und Ell wurde mit Dunkelheit überzogen. Nichts ist mehr, wie es einst war.«
»Lasst Euch nicht von den äußeren Eindrücken täuschen«, antwortete Murhab. »Wir leben in einer Welt der Gegensätze, die vom Ausgleich der Kräfte bestimmt wird. Das war schon immer so und wird sich niemals ändern. Das ist Kryson. Habt Ihr nicht den hellen Streifen am Horizont gesehen?
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