Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
hohe Vater versteckte sich hinter einer Maske der Unschuld und Ausflüchte, legte sich jedes Ereignis zurecht, wie er meinte, es brauchen zu können. Der Lordmaster würde keine Antworten erhalten. Nicht hier und nicht jetzt. Jedenfalls schon gar nicht die, welche er sich erhofft hatte. Wenn er den hohen Vater jetzt vor den Augen seiner Brüder und Schwestern erschlüge und seinem Zorn Luft machte, würde Madhrab dies nicht weiterhelfen. Er wusste nicht, was richtig oder falsch war. Seine Pläne waren durcheinandergeraten. Aber was hatte er erwartet? Sollte Boijakmar freimütig vor den versammelten Bewahrern und Sonnenreitern seine Fehler eingestehen? Dennoch war Madhrab enttäuscht, in welch dreister Weise der Overlord den Orden an der Nase herumführte. Wahrheit war anscheinend ein beliebig dehnbarer Begriff, das musste er zu seinem Bedauern nicht erst in jenem Moment seiner Begegnung mit Boijakmar feststellen.
»Dein vermeintlich vernichtender Sieg gegen Quadalkars Kinder erwies sich als nicht von Dauer«, forderte Madhrab den Overlord heraus, indem er sich an eine Bemerkung des Bluttrinkers erinnerte. »Wie sonst war es möglich, sie so zahlreich bei der Eroberung vor den Häusern versammelt zu sehen? Und was ist mit dem dunklen Mal?«
Boijakmar zuckte zusammen und erblasste, als er die Worte des Lordmasters vernahm. Offenbar wusste Madhrab mehr über ihn und seinen Feldzug gegen die Bluttrinker, als ihm lieb sein konnte. Das Verhalten des Overlords entging Madhrab nicht, obwohl sich dieser nach kurzer Besinnung wieder gefangen hatte.
»Was verlangst du, Madhrab?« fragte der Overlord überraschend, ohne auf die Bemerkung des Bewahrers näher einzugehen, »das Urteil kann und werde ich nicht zurücknehmen. Du kennst die Gesetze unseres Ordens und der höchsten Gerichtsbarkeit. Aber du hast die Wahl. Ich werde dich nicht mit Gewalt zwingen, das Schicksal in der Grube anzutreten. Zu viele sind deswegen schon zu den Schatten gegangen und ich werde keinen unserer Ordensbrüder mehr für dich opfern. Stellst du dich jedoch dem Schicksal, überwindest die Gefahren der Grube und entkommst, dann sollst du frei und deine Verbrechen sollen gesühnt sein. Dies gilt auch für deine Angehörigen und Freunde, so wahr ich hier stehe und diesen Erlass öffentlich verkünde. Weigerst du dich allerdings, wirst du zeit deines Lebens weiterhin auf der Flucht leben müssen. Niemand, der sich an deiner Seite in Freundschaft verbunden sehen lässt, kann sich seiner Unversehrtheit sicher sein. Jedermann kann dich, deine Familie und deine Freunde, ohne Bestrafung fürchten zu müssen, ausrauben, versklaven oder töten, wenn ihm danach ist. Du wirst sie nicht alle schützen können, Madhrab. Jedenfalls nicht zur selben Zeit.«
»Meine Familie ist bereits tot«, sagte Madhrab. »Aber wo ist Kaptan Brairac? Und was ist mit den ihm unterstellten Sonnenreitern geschehen?«
Die Bitterkeit in Madhrabs Stimme ließ den hohen Vater erschaudern. In Madhrab brodelten die Gefühle. Der Bewahrer war hin- und hergerissen. An Haltung und Ausdruck war unschwer zu erkennen, dass Wut und Trauer über den Verlust sich jeden Moment gewaltsam nach außen Bahn brechen konnten. Der hohe Vater stand seinem ärgsten Todfeind gegenüber, den er sich selbst erschaffen hatte. Jedes Wort wollte mit Bedacht gewählt sein, wenn er einen Krieg auf heiligem Boden vermeiden wollte.
Die Frage nach seinen Freunden war Madhrab schon, seit er das Haus des hohen Vaters betreten hatte, auf der Zunge gelegen. Boijakmar zögerte mit einer Antwort, sah den Lordmaster lange an, als ob er dessen Gedanken ergründen wollte, zuckte mit den Schultern und seufzte schließlich.
»Brairac dachte, er könne uns zum Narren halten. Wir wussten, dass er dir zur Flucht verhalf. Nach seiner Rückkehr nahmen wir ihn und die Sonnenreiter in Gewahrsam. Das Urteil lautete auf schuldig. Für Verräter gibt es nur eine Strafe. Brairac und die abtrünnigen Sonnenreiter teilen das Schicksal der Grube mit dir, Madhrab. Nach Verkündung des Urteils brachten wir sie sogleich zur Vollstreckung in die Grube. Bislang kam keiner von ihnen heraus. Ich nehme an, sie verweilen noch immer dort.«
Madhrab musste nachdenken. Er hatte befürchtet, dass Brairac für seine selbstlose Hilfe nicht ungeschoren davonkommen würde. Aber ihm deshalb ein Schicksal in der Grube angedeihen zu lassen, war bei Weitem zu hoch gegriffen. Er hätte seinen Freund von einer Rückkehr in das Haus des hohen Vaters abhalten
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