Kuckucksmädchen
dann später mit ihrem Zahnbürstenköpfchen aus seinem Badezimmerschrank melancholisch entgegenschaut.
Jonathan hat dieses Problem nicht. Er markiert meine Wohnung gerne mit seinen Sachen. Nach jedem Besuch liegt wie selbstverständlich mindestens ein fremdes schmutziges Hemd in meinem Wäschekorb. Ich nehme es, stopfe es in die Waschmaschine, hänge es zum Trocknen auf und bügele es. AnschlieÃend lege ich es in den Jonathan-Korb, der neben der Tür steht und eigentlich gar nicht ihm gehört. Diesen Korb habe ich erfunden, damit seine Dinge ihren Weg zurück finden. Er muss ihn jedes Mal mitnehmen, wenn er nach Hause fährt, und ihn wieder mitbringen, wenn er kommt. So können wir beide die Ordnung hübsch aufrechterhalten. Ein neues Leben aufzubauen fällt schwer, wenn man beruflich jahrelang die Reste fremder Leben entsorgt.
Vielleicht fiele es mir leichter, wenn ich das Leben nicht immer im Ganzen sähe. Wenn ich nicht dauernd darüber grübeln würde, wo die Dinge anfangen und wo sie enden. Aber jetzt, wo ich meine GroÃeltern aus dieser Wohnung räume ⦠Ich kann nicht aufhören, mich zu fragen, ob das ein Anfang oder ein Ende ist.
Plötzlich bewegt sich etwas in meiner Brust. Ich habe schon geahnt, dass sich mein Herz bei diesen Gedanken regen würde.
âDas ist natürlich ein Anfang. Meine Güte, Mädchen, deine Fragerei kann einem wirklich auf die Nerven gehen.
âEntschuldige bitte, dass ich in der Wohnung meiner toten GroÃeltern ein bisschen wehmütig werde. Im Ãbrigen dachte ich, solche Gefühle wären eigentlich dein Job.
Das Herz wird ganz plötzlich ein halbes Grad kälter:
âMir doch egal. Ich fühl nun mal grad was anderes.
âIch versteh schon. Du hast mehr Lust auf Anfänge â¦
âRichtig. Und darum verstehe ich auch nicht, warum wir morgen zu diesem Langweiler Phillip müssen, obwohl ich den schon vor Jahren hinter mich gebracht habe.
âWeil ich noch mal gucken möchte.
âWonach?
âOb ich alles richtig gemacht habe.
âNatürlich hast du das. Sonst wäre ich ja wohl kaum so cool geblieben, als wir ihn getroffen haben. Reicht dir das nicht?
Eigentlich sollte es das. Aber irgendwie traue ich meinem Herzen noch nicht so recht.
âIch würde eben gerne auf Nummer sicher gehen.
âVerstehe, antwortet es resigniert. Und dann, leiser und mit einem leichten Zischen: Kontrollfreak!
âBrauchst ja nicht mitzukommen.
âHaha, lacht das Herz trocken und dreht sich endgültig weg.
Insgesamt siebzehn Ãlbilder verschiedenster GröÃen fotografiere und dokumentiere ich, verpacke sie in Luftpolsterfolie und verstaue sie in Kartons. Die ersten kleinen Veränderungen merkt man der Wohnung â wie so oft â noch nicht an. Käme jetzt ein Bekannter meiner GroÃeltern vorbei, er fände ordentliche, saubere Zimmer vor, die vielleicht ein bisschen zu still daliegen. Sähe er nicht ganz genau hin, er würde die hellen Flecken an den Wänden wohl nicht bemerken. Er könnte denken, die beiden seien nur kurz einen Kaffee trinken gegangen. Vielleicht würde er sich fragen, ob die Heizung ausgefallen ist.
Keine vierundzwanzig Stunden später stehe ich vor der Tür. Vor der Tür zu einer Wohnung, aus der ich vor mehr als drei Jahren ausgezogen bin. Ein bisschen mehr Engagement von seiner Seite, ein bisschen mehr Faulheit von meiner Seite, ich hätte Phillip nicht verlassen. Hätte nicht das Studium auf Eis gelegt. Wäre nicht für vier Monate nach Barcelona abgehauen. Hätte bei meiner Rückkehr nicht Jonathan kennengelernt, der zur gleichen Zeit in der gleichen Gegend wie ich eine Singlewohnung gesucht hat. Hätte nicht den neuen Job und keine neuen Freunde gefunden. Ich hätte niemals den Tisch mit Jonathan und dem Thaihuhn und so vielen Zweifeln geteilt.
Ich würde noch heute hier wohnen. Vielleicht hätte ich meinen Job aufgegeben; Phillip scheint mittlerweile gut zu verdienen. Vielleicht wäre ich Hausfrau und zum ersten Mal schwanger. Ich käme grad vom Einkaufen oder vom Schwangerschaftsyoga. Phillip würde mir die Tür aufmachen und die Taschen abnehmen, wir würden uns aufs Sofa setzen und zusammen einen Katalog für Babymöbel durchblättern. Würde ich weniger zweifeln?
Ich drücke den Klingelknopf. Heute sehe ich genau so aus, wie ich es mir bei unserem zufälligen
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