Kuckucksmädchen
dreht sie sich um und verschwindet in die Küche.
Das riesige Bücherregal steht noch an der gleichen Stelle wie früher. Sogar die Anordnung der Bücher kommt mir bekannt vor. Und die alte Standuhr tickt in den Raum hinein und teilt die Stille in winzige Stückchen. Und dann ist da noch dieser Geruch. Wonach eigentlich?
âGeborgenheit, meint mein Herz.
âNein. Ich finde, es riecht irgendwie süÃlich. Sauber. Nach frisch gewaschenen Handtüchern.
Frau Wagner kommt ins Zimmer und stellt ein Tablett auf den gläsernen Wohnzimmertisch. »Jasmintee«, sagt sie. »Den magst du doch, oder?«
Ich lüge und nicke wie früher. Frau Wagner serviert gerne Jasmintee. Irgendwann vor ungefähr fünfzehn Jahren habe ich mal die Gelegenheit verpasst, ihr zu sagen, dass er mir schmeckt wie warme Seife.
»Es ist sehr nett von Ihnen, dass ich hier übernachten darf.«
»Ja«, sagt sie. Nicht »Gerne« oder »Ich freue mich über deinen Besuch«. Einfach nur »Ja«, als hätte sie nur nicht ablehnen können.
»Wie geht es Ihnen denn?«, frage ich noch mal, und sie sagt wieder: »Ach« und macht diese Handbewegung. Hat sie das früher auch schon gemacht? »Er muss jetzt wieder ganz von vorne anfangen.« Sie sieht mich an, als wäre es meine Schuld, und presst die Lippen zusammen. Ihren Mund hat sie mit einem korallenroten Lippenstift angemalt. Wenn ich ganz genau hinsehe, kann ich winzige Farbmoleküle beobachten, die von den Lippen in die knittrigen Hautfurchen um ihren Mund herum kriechen. Wie der Abdeckstift unter meinen Augen.
»Das wird schon. Er ist doch ein netter Mann.«
»Sie hat ihn rausgeschmissen. Einfach so, ohne Grund.«
Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Frau einen guten Grund hatte. Und dass Ilya diesen Grund nicht einfach seiner Mutter auf die Nase binden wollte. Trotzdem nicke ich brav und versuche, wenigstens ein bisschen betroffen zu schauen.
»Und was machst du hier, Wanda? Willst du ihn zurück?«
âHuch. Die kennt uns aber noch gut. Und wenn sie so fragt â¦
»Ãhm, also eigentlich habe ich einen Freund.«
âAber wir können ja mal gucken.
»Warum bist du dann hier?«
»Ich wollte sehen, wie es Ilya geht. Was aus ihm geworden ist.«
»Was aus euch geworden wäre.«
Ich seufze. »Ja. Vielleicht.«
Vorsichtig setzt sie die geblümte Porzellantasse auf der dazu passenden Untertasse ab. Auf genau diesen zarten Tellerchen habe ich in langen Nächten unzählige Zigaretten ausgedrückt. Und ein paar Joints. Ich frage mich, ob es an Frau Wagner liegt, dass ich mich in diesem Haus plötzlich so unwohl fühle. Oder ob es das Haus ist, das sich weigert, sich so wie früher anzufühlen. Manchmal sind Orte beleidigt, wenn man sie verlässt. Habe ich schon oft bei Städten erlebt, in die ich nach Jahren zurückgekommen bin und die mir mit jedem Pflasterstein, jeder altbekannten Kneipe, jeder StraÃenecke entgegenschrien: Du gehörst hier nicht mehr hin!
»Wie alt bist du jetzt, Wanda? DreiÃig?«
»Ja.«
Frau Wagner lächelt abwesend. »Wahrscheinlich glaubst du auch, du hättest einen Anspruch darauf, glücklich zu sein ⦠Als ob es nichts anderes auf der Welt gäbe â¦Â«
Ich zucke mit den Schultern und fühle mich ertappt. Seit wann ist es so verwerflich, glücklich sein zu wollen?
»Und hast du auch schon andere ehemalige Freunde besucht, meine Liebe?«
»Nicht so viele.«
Sie hebt ihre linke Augenbraue auf diese wunderbare Weise. Irgendwo in meinem Kopf hatte ich genau diese Bewegung vierzehn Jahre lang abgespeichert.
»Wie viele genau?«
»Zwei.«
»Und? Macht das die Sache für dich leichter?«
»Nein. Es mir leicht zu machen war noch nie meine Stärke.«
Stille.
»Machen Sie es sich gerne leicht, wenn es um Männer geht?«
Frau Wagner lacht auf. »Nein, natürlich nicht. Aber im Gegensatz zu dir habe ich mich irgendwann entschieden. Habe geheiratet. Ein Kind zur Welt gebracht. Und als es nicht so gut lief, habe ich einfach noch eines bekommen.«
âSiehst du, so einfach kann es sein.
»Aber am Ende â¦Â«
»â¦Â haben wir uns getrennt, ja. Aber ich habe es wenigstens darauf ankommen lassen.«
âJaaa, lassen wir es darauf ankommen!
âNa, du warst schon immer leicht zu motivieren, mein Herz.
Frau Wagner schenkt
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