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Kuckucksmädchen

Kuckucksmädchen

Titel: Kuckucksmädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Lohmann
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flüchte.
    Damit ich nicht in die Versuchung komme, zu lange in den Erinnerungen meiner Großeltern zu blättern, setze ich mich im Schneidersitz auf den Fußboden vor dem Bücherregal und nicht in einen der großen Ohrensessel, die nur ein paar Meter entfernt stehen.
    Mein Großvater hat die dicken Alben ordentlich beschriftet, in penibel gemalten altdeutschen Buchstaben. Sie tragen Etiketten von 1942 bis 2008. Da hatte ich den beiden eine digitale Kamera geschenkt, und sie haben aufgehört, Fotos zum Anfassen in Alben zu kleben.
    Im ersten Album finde ich eine Menge Schwarz-Weiß-Bilder von Menschen, die ich nicht kenne. Männer und Frauen in Sonntagskleidung, schüchtern lächelnde Mädchen mit gefalteten Händen, alte Männer in Schaukelstühlen mit kleinen, puttenähnlichen Babys auf dem Schoß. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendwo auf dieser Welt noch Menschen gibt, die wissen, wer diese Leute sind. Oder die sie vermissen.
    Ein paar Seiten weiter finde ich einzelne Bilder von meinem Großvater, dünn, aber lächelnd, auf denen er in russischer Gefangenschaft endlos lange Straßen baut. Die ersten Aufnahmen meiner Großmutter entdecke ich erst vier Ordner weiter. Eine schöne, leicht spöttisch dreinschauende Frau beim Spazierengehen, beim Skilaufen, beim Kölner Karneval. Es folgen Bilder von Urlauben in Italien, am Bodensee, und ihrer ersten Flugreise, nach London. Sie sind fast immer zusammen auf den Bildern; sie müssen andere Touristen gebeten haben, sie zu fotografieren, und sie sehen glücklich und stolz aus. Ich bin mir sicher, dass sie damals noch nicht ihre Worte verloren hatten.
    Ab 1958 tauchen die ersten Bilder von der Wohnung auf. Meine Großmutter, die wie eine Stewardess lächelnd die Schrankwand präsentiert, vor der ich jetzt sitze. Es wird viel gefeiert, dauernd werden Sektgläser in die Kamera gehalten. Kurze Zeit später mein Vater als Baby auf einer Decke. Dann sein Bruder. So viel Leben. Und alles, was davon übrig bleibt, sind ein paar Fotoalben, die sich eine leicht melancholische Enkelin nicht wegzuschmeißen traut.
    Nach mir wird es nicht mehr viele Generationen geben, die sich überlegen müssen, was sie mit den Fotoalben ihrer verstorbenen Angehörigen machen sollen. Ich selbst habe seit vier Jahren kein einziges Bild mehr entwickelt. Meine Fotos lagern in digitaler Form auf irgendwelchen Festplatten, alten Handys und sozialen Netzwerken. Wenn ich tot bin, werden meine Enkel nicht mehr tun müssen, als ein paar hundert virtuelle Ordner über einen Bildschirm zu ziehen und auf der Höhe eines kleinen Papierkorbs eine Taste loszulassen. Vielleicht wird noch nicht mal mehr das nötig sein. Wahrscheinlicher ist, dass sie sich um gar nichts mehr kümmern müssen und, wenn sie sich an mich erinnern wollen, einfach und jederzeit meine Facebook-Chronik anklicken können. Sie werden ein bisschen hoch- und runterscrollen, schauen, was ich am 24. Februar 2011 zu Mittag hatte, vielleicht drücken sie den Gefällt-mir- Button unter dem Bild, das Jonathan und mich bei unserem ersten Kretaurlaub zeigt. Wenn sie genug Zeit haben, schaffen sie es sogar bis zum Ende der Timeline, 2061, und bevor sie auf das nächste Profil klicken, hinterlassen sie ein kleines Herzchen auf meiner Pinnwand, die ich schon seit vielen Jahren nicht mehr lesen kann.
    Ich knie noch immer auf dem moosgrünen Teppichboden. Meine Gelenke sind kalt und starr, mein Kopf voller fremder Erinnerungen. Es ist dunkel geworden, während genau das passiert ist, was ich verhindern wollte. Zwischendurch habe ich die Stehleuchte angeknipst, als ich die Bilder fast nicht mehr erkennen konnte; den Platz auf dem Ohrensessel habe ich mir weiterhin nicht erlaubt. Trotzdem habe ich nichts geschafft heute. Und morgen Mittag kommen die Jungs.
    Als ich mich um dreiundzwanzig Uhr sechzehn aufs Sofa lege, seufzt es auf die gleiche Weise wie in den dreißig Jahren zuvor. Es seufzt in die kalte, leere Wohnung hinein, als ob es wüsste, dass ich das letzte Mal auf ihm übernachte, dass überhaupt jemand das letzte Mal auf ihm liegt.
    Schon als Kind habe ich auf diesem Sofa geschlafen, und ich erinnere mich daran, wie meine Großmutter mich morgens um sieben weckte, in den Ferien oder zur Schulzeit, als Kindergartenkind oder Studentin. Sie kam um sieben Uhr ins Wohnzimmer, öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen,

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