Kuckucksmädchen
und fragte mich, ob ich Kakao oder Tee zum Frühstück wolle. Als ich mit siebzehn das erste Mal nach einem Kaffee fragte, schüttelte sie empört den Kopf.
»Aber doch nicht für Kinder«, antwortete sie und lächelte ihr spöttisches Lächeln. Sie schien sich von der Vergangenheit ebenso schwer verabschieden zu können wie ihre Enkelin.
Das Licht lasse ich brennen, und weil ich mich einsam fühle und Jonathan das nicht wissen lassen will, unterhalte ich mich noch ein bisschen mit dem Herz.
âMeinst du, sie waren glücklich?, frage ich es.
âAm Ende eher nicht. Aber da hatten sie auch keine Wahl mehr.
âKeine Wahl zu haben ist gut, glaube ich manchmal.
âJa. Dann muss man wenigstens nicht wie du dauernd in das Leben von anderen gucken und prüfen, ob man da selbst noch reinpassen würde.
âIn Australien gibt es einen Vogel, der seinem Weibchen zu Brutbeginn einen Baum sucht und dann verschiedene Nester in unterschiedlichen Höhen und GröÃen hineinbaut. Jedes Jahr von Neuem. Und das Weibchen hüpft von Nest zu Nest, bis es das passende für sich gefunden hat. Dort brüten die beiden dann gemeinsam ihre Eier aus. Vielleicht wäre ich als australisches Vogelweibchen glücklicher geworden.
âIch glaube, Jonathan könnte dir Hunderte von Nestern bauen, Mädchen. Du wärst mit keinem zufrieden.
âIst das so, mein kleines hartes Herz?
âDas ist so. Leider. Du bist wohl eher ein Kuckucksmädchen. Fliegst von Nest zu Nest. Beobachtest, wie die anderen sich eingerichtet haben. Fragst dich, ob du noch reinpasst. Ob es dir zu eng, zu groÃ, zu schön oder zu verlogen ist. Ob du dir vorstellen könntest, deine Kinder dort groÃzuziehen. Und dann â¦
Ich seufze.
â  ⦠Und dann lasse ich doch wieder nur ein paar Federn und fliege weiter.
Die Nacht ist lang und unheimlich. Das brennende Licht lässt mich nicht richtig schlafen, immer wieder schrecke ich auf. Atme die letzten übrig gebliebenen Moleküle, die auch meine GroÃeltern geatmet haben. Horche, ob die Wohnung mir noch etwas sagen will. Horche auf meine toten GroÃeltern im Schlafzimmer.
Immer wieder träume ich, dass ich aufwache, und sehe, wie meine GroÃmutter hereinkommt, wie sie an meinem Sofa steht, wie sie mir eine Tasse Tee anbietet, wie sie den Kopf schüttelt über die am Boden verstreuten Fotobücher. Meinen GroÃvater sehe ich kein einziges Mal.
Bevor es richtig hell wird, stehe ich auf. Die Fliesen im Badezimmer sind eiskalt. Ich bringe es nicht über mich, mir mit dem vertrockneten rosa Klumpen in der Seifenablage die Hände zu waschen. Stattdessen mache ich nur das Gesicht nass, und weil auch kein einziges Glas mehr in der Küche ist, trinke ich dabei ein bisschen Wasser aus der hohlen Hand. Danach finde ich kein Handtuch, um mich abzutrocknen.
Die Kargheit der Wohnung macht mir die nächsten Schritte einfacher. Ich kann gerade kein einziges weiteres trauriges Gefühl in mir ertragen. Ich gehe zum Kleiderschrank. Ich reiÃe zwanzig robuste Tüten der Hamburger Müllabfuhr einzeln an ihren Perforierungen ab und schüttle sie auf. Halte die Luft an. Suche nicht, wie geplant, stundenlang nach sorgfältig versteckten Sparstrümpfen in der Wäschekiste, veralteten Liebesbriefen unter Regalbrettern oder vergessenen Perlenohrringen in Strickjackentaschen. Greife in den Schrank, ohne zu gucken. Hole Kleider und Mäntel und Schuhe und Hosen und Wäsche und Hüte heraus und packe sie in die groÃen pinken Plastiktüten. Klebe sie so schnell wie möglich zu, damit ich nicht mehr hineinsehen kann. Dann wuchte ich neunzehn prall gefüllte Säcke aus der Haustür, in den Fahrstuhl, von dort ins Auto und fahre sie, ohne mit der Wimper zu zucken, in den Umsonstladen.
4
» Lieben Sie jemanden? Und wenn ja,
woraus schlieÃen Sie das? «
Max Frisch
Ich rasiere meine Beine nicht. Die Stoppeln sind nun drei Tage alt und haben genau die richtige Länge, um sich so kratzig wie möglich anzufühlen. Ich habe mir eine neue Jeans gekauft, meine Haare mit Glanzshampoo gewaschen und mir lange Puppenwimpern geschminkt. Aber ich rasiere meine Beine nicht. Hübsch ja, rasiert nein. Oben hui, unten pfui. Mein persönliches Treuerezept. Unrasierte Beine packt man nur ungern aus. Und ich sollte mich heute Abend nicht auspacken lassen, das steht fest.
Ich werde in Brühl schlafen,
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