Kuckucksmädchen
im alten Zimmer von Ilyas kleinem Bruder, der mittlerweile auch nicht mehr so klein, sondern im Gegenteil sogar schon verlobt ist. Von Hamburg nach Köln sind es mit dem Zug über drei Stunden; hin und zurück an einem Tag wäre zu anstrengend, das wird selbst Jonathan verstehen. Oder vielleicht sollte ich lieber sagen, er würde es verstehen, wenn ich es ihm denn erzählt hätte.
Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem ich das erste Mal das Haus von Ilyas Eltern betrat. Ich hatte mein bisheriges Leben in Wohnungen verbracht, ein Leben in schönen, aber aufeinandergestapelten Kästen. Links und rechts, über und unter mir immer nur Kästen mit Nachbarn drin. Die Zimmer waren Kästen, die Wohnungen waren Kästen, und mit etwas Glück hatte man vorm Wohnzimmer einen Extrakasten, das war dann der Balkon.
Ilyas Elternhaus hatte eine Terrasse. Einen Garten. Treppen. Mehrere Badezimmer. Und einen schmiedeeisernen Zaun, der mit Efeu bewachsen war und einmal komplett um das kleine quadratische Grundstück herumlief. Es war kein protziges Haus â verglichen mit den Häusern in der Nachbarschaft war es sogar eher klein â, aber es hatte eine Seele.
Ich kann gar nicht sagen, ob es zuerst das Haus war oder zuerst Ilya, wahrscheinlich habe ich mich in beide zeitgleich verliebt. Und das Haus und Ilya verliebten sich zurück. Dass auch seine Eltern und sein kleiner Bruder dort lebten, störte mich wenig; oft waren wir alleine zu Hause, und falls doch mal jemand da war, verlor man sich in den vielen Zimmern schnell aus den Augen. Wir standen Ewigkeiten vor dem riesigen Bücherregal, setzten uns mit Bildbänden auf die Treppe, nur um dort herumzuknutschen, bis es dunkel wurde. Oft gingen wir dann in die Küche und kochten uns barfuà eines der wenigen Gerichte, die wir schon konnten. Oder wir lagen im Garten und rauchten Hasch, das wir auf den aufgeschlagenen Seiten unserer Biologie-Lernbücher mit Tabak vermischt hatten.
Ich liebte dieses Haus und seine irgendwie lethargische Stimmung, und als ich Ilya zwei Jahre später wegen eines Surflehrers verlassen musste, hatte ich das Gefühl, auch das Haus im Stich zu lassen. Denn Haus ohne Ilya, das ging leider nicht. Seitdem habe ich es nie wieder betreten und irgendwann vergessen.
Obwohl ich weiÃ, dass Ilya mich nicht vom Bahnhof abholen wird, checke ich während der dreistündigen Zugfahrt viermal mein Make-up. In letzter Zeit legt sich ein paar Stunden nach dem Schminken der hellbeige Abdeckstift in die Falten unter meinen Augen.
Ich trauere schon jetzt meinem alternden Körper hinterher. Seit meine Brüste weicher werden und das Herz spricht, jagt mir der Gedanke, dass alles ein Ende hat, noch mehr Angst ein als früher. Und für einen kurzen Moment denke ich, dass die Vergänglichkeit eine verdammt ungerechte Sache ist. Aber wenn man ehrlich ist, muss man wohl zugeben, dass es eigentlich die gerechteste Sache der Welt ist, denn die Zeit vergeht für alle gleich. Trotzdem würde ich am liebsten das Leben anhalten.
Das Erste, was ich von Ilya sehe, ist seine Mutter. Frau Wagner sieht fast genauso aus wie vor vierzehn Jahren. Sie hat ihre knabenhafte Figur gehalten â schon zu Schulzeiten war sie immer dünner als ich. Nur ihre Haare sind ein bisschen grauer, ihre Falten etwas tiefer geworden. »Wanda«, sagt sie und tritt einen Schritt zur Seite, damit ich hereinkommen kann. In ihrem Blick liegt eine Mischung aus Freude und Frustration.
Eine Weile stehe ich unsicher in dem dunklen Flur, an den sich schon damals meine Augen immer ein paar Sekunden lang gewöhnen mussten. Frau Wagner gibt mir weder die Hand, noch umarmt sie mich, sie macht etwas dazwischen: Mit beiden Händen fasst sie meine Ellenbogen und zieht mich ein Stück weit an sich heran. Ich rieche ihr Parfüm, das ich mir morgens immer heimlich aufgetragen habe, wenn ich eine Nacht in diesem Haus verbracht habe.
»Schön, Sie zu sehen, Frau Wagner. Wie geht es Ihnen?«
»Ach.« Sie winkt ab. »Aber komm erst mal rein.«
Sie führt mich ins Wohnzimmer und bietet mir einen Platz auf einer Couch an, die ich nicht kenne. »Ilya ist noch nicht wieder da. Soll ich uns einen Tee machen? Ich habe das Wasser schon aufgesetzt.«
Ich nicke. Sie mustert mich noch einmal prüfend, als hätte sie ein schlechtes Gefühl dabei, mich unbeaufsichtigt in ihrem Wohnzimmer sitzen zu lassen. SchlieÃlich
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