Küchenfee
geliebten Sohn, der seiner Ehefrau Kummer und Schmerzen bereitet hatte, die sie nur allzu gut kannte.
Käthe griff wieder zum Telefon und bestellte sich ein Taxi.
Lilli schlug die Augen auf. Wo war sie? Es fühlte sich so anders an, und es roch fremd. Sie setzte sich auf. Es pochte in ihren Schläfen. Sie hörte eine Frau leise sprechen. Benommen schüttelte sie den Kopf. Und dann kam die Erinnerung. Armin. Armin und Vanessa. Wie bei einer Diashow erschienen Bilder vor ihrem geistigen Auge: Vanessas perfekt geschminktes, erschrockenes Gesicht. Monsieur Pierre, der sie in die Küche führte.
Gina, die Monsieur Pierre anschrie.
Gina, die sie in ihr Bett verfrachtete.
In Zeitlupe sah sie wieder und wieder das Wasserglas durch Vanessas Büro fliegen und an dem Foto zerschellen, Sinnbild für ihr zerbrochenes Leben.
Wie eine grausame Gebetsmühle hörte sie immer wieder Vanessas spöttische Stimme sagen: Wenn dein kleines Muttchen in den letzten drei Jahren nichts gemerkt hat … dein kleines Muttchen … nichts gemerkt … dein kleines Muttchen … dein kleines Muttchen … dein kleines Muttchen …
Lilli hielt sich die Ohren zu, als könne sie dadurch die springende Schallplatte in ihrem Kopf zum Schweigen bringen. Sie hatte das Gefühl, in Treibsand zu versinken, ohne jede Kraft, sich dagegen zu wehren. Sie fröstelte. Totale Hoffnungslosigkeit schnürte ihr die Luft ab. Am liebsten hätte sie sich die Decke über den Kopf gezogen.
Lilli starrte in die Dunkelheit. Sie hätte nichts dagegen gehabt, den Rest ihres Lebens so zu verbringen, aber der Gedanke an ihre ahnungslosen Töchter zu Hause ließ ihr keine Ruhe. Mühsam quälte sie sich aus dem Bett und ertastete sich den Weg zur Tür.
Sie fand Gina im Wintergarten, wo sie mit dem Rücken zu Lilli in einem der Korbsessel saß und in den Garten hinaussah.
»Gina?«, hörte Lilli sich flüstern. Ihre Stimme war ihr fremd: rau und kraftlos.
Gina drehte sich zu ihr um. In ihrem Gesicht sah Lilli eine Mischung aus Besorgnis und Mitleid. »Ach, Lilli, Mensch … Du bist schon wieder wach? Komm, setz dich zu mir. Möchtest du einen Kaffee?«
Lilli nickte. Sie hielt sich schwankend am Türrahmen fest.
»Ich möchte mich ein bisschen frisch machen, ist das okay? Dann komme ich raus, ja? Und … Mein Kopf … Hast du vielleicht eine Tablette für mich?«
»Natürlich, cara mia , wie du möchtest. Ich habe dir frische Handtücher hingelegt.«
Lilli schleppte sich in Ginas Badezimmer. Minutenlang stand sie mit hängenden Schultern vor dem Spiegel und starrte sich an. Die Frau, die ihr entgegenblickte, hatte fahle Haut und tiefe, dunkle Schatten unter den Augen. Ihre Augenlider waren gerötet und vom Weinen dick angeschwollen. Ihre Lippen nur noch blasse Striche in ihrem spitzen Gesicht, aus dem jegliches Leben gewichen war.
Lilli drehte den Wasserhahn auf und schöpfte sich mit beiden Händen eiskaltes Wasser ins Gesicht. Sie trocknete sich ab und warf einen letzten, hoffnungslosen Blick in den Spiegel, bevor sie das Bad wieder verließ. Vorsichtig und tastend ging sie durch Ginas Wohnzimmer. Sie war sicher, in tausend Teile zu zerspringen, wenn sie irgendwo anecken würde.
Im Wintergarten blinzelte sie, das Licht erschien ihr unnatürlich grell. Die Sonne strahlte, und die Blumen und Sträucher in Ginas Garten blühten in voller Farbenpracht, strotzend vor prallem Leben. Zwitschernde Vögel jagten sich im Tiefflug. Aus einem Garten in der Nachbarschaft erklang das Lachen spielender Kinder.
Wie konnte das sein? War nicht gerade die ganze Welt zusammengebrochen? Konnte das Leben einfach so weitergehen? War es möglich, dass nicht alles grau und braun und verdorrt und erstarrt war – so wie sie selbst?
»Lilli, setz dich doch hin.«
Gina war hinter ihr aufgetaucht und stellte einen frischen Becher Kaffee auf den Tisch. Als Lilli danach griff, verschüttete sie etwas von der heißen Flüssigkeit über ihre Hand. Sie spürte es nicht.
»Lilli, wie fühlst du dich?«, fragte Gina und nahm ihr sanft die Tasse aus der Hand.
»Genau so, wie ich aussehe, Gina. Kein Wunder, dass Armin sich eine andere Frau gesucht hat, das ist mir jetzt klar geworden«, murmelte Lilli. »Vanessa stinkt bestimmt nicht nach Küche und Bratenfett und rennt nicht in schlabberigen Klamotten rum. Vanessa duftet nach sündhaft teuren Parfüms und ist immer perfekt gestylt. Vanessa hat auch keinen zotteligen Pferdeschwanz, sondern geht jede Woche zum Friseur
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