Kuehler Grund
sagen oder tun sollte. Ich kam mir so dumm vor. Er gab mir das Gefühl, ich sei derjenige, der nicht wüsste, was sich gehört. So fühle ich mich in seiner Gegenwart immer.«
»Andere Väter hätten genau gewusst, was zu tun ist«, warf Hitchens ein.
»So ein Vater bin ich wohl nicht. Ich bin auch nicht so ein Mann. Für mich war Gewalt noch nie eine Lösung.«
»Gewalt. Aha. Meinen Sie, ich wollte darauf hinaus?«
»Nicht?«, fragte Andrew erstaunt. Er sah den Beamten vorwurfsvoll an, als ob der ihn in eine Falle gelockt hätte.
»Und natürlich ist Mr. Vernon fast zehn Zentimeter größer als Sie, und schwerer, jünger und fitter ist er auch. Unter diesen Umständen war es klüger, Vorsicht walten zu lassen. Sehr weise.«
Andrew senkte den Kopf und nahm die Spitze widerspruchslos hin.
»Sie hätten ihn anzeigen können. Sie hätten kündigen können«, sagte Tailby. »Aber Sie ziehen es vor, weiter für diesen Mann zu arbeiten.«
»Chief Inspector, ich kann es mir nicht leisten, meine Stelle zu verlieren. Ein Mann in meinem Alter und mit meinem beruflichen Hintergrund findet nur schwer wieder Arbeit. Ich habe eine Frau, eine Hypothek. In der Vergangenheit habe ich beruflich Pech gehabt. Das darf mir nicht noch einmal passieren. Ich brauche den Job bei Vernon. Kündigen? Ausgeschlossen.«
Tailby ließ sich nicht anmerken, dass Andrew ihm Leid tat. »Dann wechseln wir das Thema und kommen zu Charlotte Vernon.«
»Charlotte?«
»Mrs. Vernon hat ausgesagt, Sie seien einer ihrer Liebhaber.«
Andrew sperrte den Mund auf und schüttelte heftig den Kopf. »O nein.«
»Heißt das, sie hat gelogen?«
»Ich war nicht ihr Liebhaber.«
»Nein? Wieso sollte sie so eine Lüge erfinden, Mr. Milner?«
»Das weiß ich nicht.«
»Aber Sie waren doch einmal auf einer dieser Partys bei den Vernons, nicht wahr?«
»Ja, gut. Aber bei … bei so etwas würde ich nie mitmachen.«
Tailby schwieg eine Zeit lang. Andrew Milner ließ den Kopf hängen und wartete schicksalsergeben auf die nächste Frage.
»Wo waren Sie Samstagabend, Mr. Milner?«
Andrew machte ein verwirrtes Gesicht. »Das habe ich doch schon vor Tagen gesagt«, sagte er angriffslustig.
»Ach ja.« Tailby warf einen Blick in seine Unterlagen. »Sie waren bei einer Besprechung mit Klienten in Leeds. Ist das nicht etwas ungewöhnlich für einen Samstagabend?«
»Überhaupt nicht. Wir hatten sehr viel zu tun. Wenn die Klienten samstags arbeiten, arbeiten wir auch.«
»Und Sie sagen aus, Sie seien müde gewesen und hätten auf dem Heimweg eine Pause gemacht.«
»An der Raststätte Wolley Services auf der Ml. Ich hatte einen langen Tag hinter mir. Ich glaube, ich habe fast eine Stunde geschlafen. Wenn man übermüdet ist, sollte man nicht Auto fahren.«
»Wie wahr. Weiter sagen Sie aus, Sie hätten anschließend auf der Ml im Stau gestanden.«
»Ja, und nachdem ich von der Autobahn abgefahren war, auch. Als ich durch Sheffield kam. Ich glaube, es hatte irgendwo einen Unfall gegeben. Und dazu noch die üblichen Baustellen.«
Tailby schlug mit der flachen Hand auf die Akte. »Natürlich gab es Baustellen. Es gibt immer Baustellen. Und für den Rest Ihrer Aussage gibt es keinerlei Beweise.«
»Daran kann ich auch nichts ändern.«
»Also gut«, sagte der DCI. »Kommen wir noch einmal auf Ihr Verhältnis zu Mr. Vernon zu sprechen. Sie können es sich nicht leisten zu kündigen, und Sie können es sich nicht leisten, zu hart mit dem Boss aneinander zu geraten. Ist das richtig? Also sitzen Sie einfach da und drehen Däumchen, während der Mann über Ihre Tochter herfällt. Sie finden sich mit der Demütigung ab.«
»Ich fürchte, genauso war es.«
Tailby stand auf und beugte sich wütend über Andrew Milner, der auf seinem Stuhl noch kleiner wurde.
»Nein, das nehme ich Ihnen nicht ab, Mr. Milner. Ich glaube nicht, dass Sie sich einfach so gefügt haben.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich denke, Sie konnten die Demütigung nicht verwinden. Ich denke, es hat an Ihnen genagt, die Wut, die Erniedrigung, der Selbstekel. Die Scham, dass Sie nicht Manns genug waren, so zu reagieren, wie die meisten anderen Väter reagiert hätten. Sie hassten Graham Vernon ohnehin schon, weil er Sie missachtet und wie einen Dienstboten behandelt. Doch nun wurde Ihr Hass übermächtig, und Sie wollten zurückschlagen. Ich denke, Sie fanden das ideale Mittel zum Zweck – seine eigene Tochter. Ihr Motiv war Rache, sehe ich das richtig, Mr. Milner? Rache für die
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