Kuehles Grab
Schule kam. Er entschuldigte sich artig. Er habe nur geübt, erklärte er mir. In Biologie sollten sie am Ende des Semesters einen Frosch sezieren. Er machte sich Sorgen, dass ihm dabei übel werden oder dass er beim Anblick von Blut in Ohnmacht fallen könnte. Und er hatte Angst, dass er wieder zur Zielscheibe des Spottes würde, wenn er Schwäche vor seinen Klassenkameraden zeigte.«
Eola senior hob die Schultern. »Ich glaubte ihm. Seine Angst vor Spott und Hohn, die Erklärung – es klang sehr logisch. Mein Sohn konnte ausgesprochen überzeugend sein. Er entfernte die Kadaver eigenhändig aus seinem Zimmer und vergrub sie im Garten. Ich betrachtete die Angelegenheit als erledigt. Nur …«
»Nur …?«
»Das Leben im Haus war nicht mehr dasselbe. Maria, unsere Haushälterin, hatte ständig kleinere Unfälle. Plötzlich lag ein Besen vor ihren Füßen, und sie stolperte darüber. Einmal, als sie eine neue Flasche mit Bleichmittel öffnete, rutschte sie ihr aus den Händen, und die Dämpfe stiegen ihr augenblicklich zu Kopf. Es gelang ihr, gerade noch rechtzeitig, bevor sie das Bewusstsein verlor, aus dem Raum zu entkommen. Wie sich herausstellte, hatte jemand das Bleichmittel ausgegossen und durch Ammoniak ersetzt. Kurz danach kündigte Maria. Sie behauptete steif und fest, in unserem Haus würde es spuken. Aber ich hörte kurz darauf, wie sie ganz leise vor sich hin murmelte: ›Und das Gespenst trägt den Namen Christopher.‹«
»Sie glaubte, dass er ihr etwas antun wollte?«
»Nein, sie war überzeugt, er wollte sie umbringen«, korrigierte Eola senior Sinkus schonungslos. »Vielleicht hatte er erfahren, dass Maria sein Verhältnis zu Gabrielle aufgedeckt und ihn an uns verraten hat. Möglich, dass er sich rächen wollte. Ich weiß es nicht. Christopher war höflich, kooperativ, gut in der Schule. Er tat alles, worum man ihn bat. Aber selbst …« Eola senior holte tief Luft. »Nicht einmal ich hatte meinen Sohn noch gern um mich.«
»Was geschah im April 1974?«, fragte Sinkus sanft.
»Christopher ging auf Reisen«, fuhr Eola senior leise fort. »Es war, als würden sich die dunklen Wolken über dem Haus verziehen – für fast zwei Jahre. Unsere Tochter machte mit einemmal einen viel weniger verängstigten Eindruck. Die Köchin pfiff und sang in der Küche. Wir alle bewegten uns mit leichteren Schritten durchs Haus. Niemand verlor ein Wort darüber – was hätten wir auch sagen können? Wir haben nie erlebt, dass Christopher etwas Unrechtes tat. Nach der Sache mit den Eichhörnchen und Marias Kündigung gab es keine Unfälle, keine schlechten Gerüche oder sonst etwas Verdächtiges mehr. Aber das Leben war schöner ohne Christopher.«
»Dann kehrte er zurück.«
Eola schwieg eine ganze Weile. Fort war seine entschiedene, gefühllose Haltung. Jetzt wirkte er eher finster, zornig, deprimiert. Bobby beugte sich vor, spannte die Bauchmuskeln an und wappnete sich für das, was als Nächstes kam.
»Zuerst veränderte sich Natalie«, erzählte Eola senior geradezu versonnen weiter. »Sie wurde launisch, reserviert. Stundenlang saß sie ganz still da, und plötzlich verlor sie wegen einer Kleinigkeit die Beherrschung. Wir dachten, das liege an der Pubertät. Sie war vierzehn – ein schwieriges Alter. Außerdem hatte sie fast zwei Jahre sozusagen als Einzelkind alles für sich allein gehabt. Unsere Vermutung war, dass ihr Christophers Rückkehr zu schaffen machte.
Er schien ihre Launen geduldig zu ertragen. Er schenkte ihr Blumen und Süßigkeiten, gab ihr alberne Kosenamen, dichtete abscheulich freche Lieder. Je mehr sie ihn von sich stieß, umso mehr Aufmerksamkeit schenkte er ihr. Er nahm sie mit ins Kino, gab vor seinen Freunden mit ihr an und begleitete sie auf dem Schulweg. Christopher hatte sich zu einem hübschen jungen Mann entwickelt. Er war kräftiger und selbstsicherer geworden. Ich glaube, mehr als eine von Natalies Freundinnen schwärmte für ihn, was er natürlich zu seinem Vorteil ausnutzte. Pauline und ich waren der Ansicht, dass ihm das Reisen gutgetan hatte. Er schien erwachsen geworden zu sein.
Am Tag nach Christophers Geburtstagsfeier erhielt ich einen Anruf von einem Klienten aus New York. Es gab etwas Wichtiges zu besprechen, und ich musste mich mit ihm treffen. Pauline beschloss, mich nach New York zu begleiten – vielleicht blieb uns abends ja ein wenig Zeit für einen Theaterbesuch. Natalie wollten wir für die Tage nicht aus der Schule nehmen, aber das war kein Problem –
Weitere Kostenlose Bücher