Kuehles Grab
Ob wir noch einmal von vorn anfangen könnten? Falls mir das Probleme bereitete, könnte sie auch die Innenarchitektin von Tiffany damit beauftragen.
Dann hörte ich mir noch drei weitere Anrufe an, bei denen keine Nachricht hinterlassen worden war. Mr. Petracelli?, fragte ich mich. Oder jemand, der mich unbedingt erreichen wollte? Nach Jahren des Alleinseins war ich plötzlich ein gefragtes Mädchen.
Ich schaute aus dem Fenster in die regnerische Dunkelheit. Jemand wollte das Medaillon zurückhaben. Jemand hatte Sergeant Warrens Auto aufgespürt. War es nur eine Frage der Zeit, bis dieser Jemand auch mich fand?
»Bella«, rief ich, »wie wär's, wenn du heute mit mir zur Arbeit gehen würdest?«
Der Vorschlag gefiel Bella. Sie sprang ein halbes Dutzend Mal um die eigene Achse, dann lief sie zur Tür und sah mich erwartungsvoll an. Die Ansage, dass ich mich noch umziehen musste, passte ihr weniger, aber das gab ihr wenigstens die Gelegenheit, ihr Abendessen zu verschlingen. Währenddessen zog ich mich an und steckte auch meinen Elektroschocker in meine Schultertasche, den besten Freund eines ängstlichen Mädchens.
Bella und ich verließen die Wohnung, und ich verriegelte wie immer die Tür. Vor dem Haus zögerte ich, sah nach rechts und links. Zu dieser Stunde herrschte dichter Verkehr, die Leute waren nach der Arbeit unterwegs nach Hause. Auf der Atlantic Avenue standen die Autos Stoßstange an Stoßstange – das war bei Regenwetter meistens so.
Meine kleine Seitenstraße war ruhig. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich auf dem nassen, schwarzen Asphalt.
Ich nahm Bellas Leine in die Hand, und wir gingen los.
Bei Starbucks standen gegen acht Uhr fünf Leute in der Schlange, verlangten Bagles, einen großen Latte mit Sojamilch und so weiter. Ich machte einen Espresso nach dem anderen und sorgte mich um Bella, die ich unter der Markise neben dem Glaseingang angebunden hatte, und um Mr. Petracelli, der auf der anderen Seite des Quincy Market auf mich wartete.
»Ich brauche eine Pause«, erklärte ich dem Manager.
»Du hast Kundschaft«, erwiderte er.
Es war Viertel nach acht. »Ich muss aufs Klo.«
»Lerne, es zurückzuhalten.«
Um zwanzig nach acht stürmte eine lärmende Familie herein, und mein Chef gab immer noch nicht nach. Mir reichte es. Ich riss mir die Schürze vom Leib und warf sie auf die Theke. »Auch wenn es dir nicht passt – ich gehe auf die Toilette«, sagte ich. Damit stürmte ich davon und ließ Carl sowie vier Kunden sprachlos vor Staunen zurück.
Ich wischte schnell den Kaffeesatz weg, der auf mein Shirt geraten war, drängte mich durch die Glastür und lief zu Bella. Sie erwartete mich mit hängender Zunge und freute sich offensichtlich schon auf einen Ausflug. Es war ein kleiner Schock für sie, als ich sie nur über den Quincy Market führte, in der Hoffnung, dass Mr. Petracelli noch auf mich wartete.
Ich entdeckte ihn nicht sofort in der Menge, die sich vor Ned Devine's versammelt hatte. Der Regen hatte nachgelassen, und die Gäste wagten sich wieder ins Freie. Ich geriet in Panik und wirbelte herum, als mir jemand auf die Schulter tippte. Bella kläffte aufgeregt.
Mr. Petracelli wich erschrocken zurück. »Aber, aber«, brummte er, riss die Hände hoch und beäugte misstrauisch meinen Hund.
Ich zwang mich, tief durchzuatmen und Bella zu beruhigen. »Tut mir leid«, erklärte ich. »Bella mag keine Fremden.«
Mr. Petracelli nickte, ohne Bella aus den Augen zu lassen, als sie sich endlich setzte und an mein Bein drückte.
Mr. Petracelli war passend für das Wetter ausgestattet: langer brauner Trenchcoat, schwarzer Regenschirm, dunkelbrauner Filzhut. Er erinnerte mich an die Spione aus den Filmen.
Mr. Petracelli hatte um dieses Treffen gebeten, daher wartete ich, dass er als Erster das Wort ergriff.
Er räusperte sich. »Ich entschuldige mich – wegen gestern«, sagte er. »Als Lana sagte, dass du vorbeikommen würdest … ich war einfach noch nicht bereit, dich zu sehen.« Er machte eine Pause, und da ich immer noch schwieg, fuhr er hastig fort: »Lana hat ihre Stiftung, ihre Aufgabe. Bei mir ist das anders. Ich will nicht an diese Tage zurückdenken. Es fällt mir leichter, so zu tun, als hätten wir niemals in der Oak Street gelebt. Arlington, Dori, die Nachbarn … das alles kommt mir vor wie ein Traum. Wie etwas, was ganz weit weg ist. Und ich bilde mir manchmal ein, dass das Ganze, wenn ich Glück hatte, nur in meiner Phantasie passiert ist.«
»Es tut mir
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