Küss mich, bis der Sommer geht (Bianca) (German Edition)
Anblick ihrer Augen zog sich ihm der Magen zusammen. So besorgt hatte er sie noch nie erlebt. „Ist etwas mit Sam?“
Bis eben hatte sie noch wie benommen gewirkt, jetzt schien Emily sich wieder zu fangen. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Sam ist immer noch mit den Zwillingen unterwegs.“ Sie blickte ihn ratlos an. Dann sagte sie: „Es geht um deinen Vater.“
Mein Vater! Luke erstarrte. Auf einmal kam es ihm vor, als wäre sein ganzer Körper aus Blei. „Ist er … tot?“ Seine eigene Stimme kam ihm seltsam tonlos vor, und für einen Moment schien es ihm, als würde die ganze Prärie um ihn herum verstummen: die Vögel, die Grillen, die Frösche.
„Nein“, erwiderte Emily. „Aber Liz hat eben angerufen und sagt, dass du möglichst schnell kommen sollst.“
Luke spürte eine Mischung aus Erleichterung und Angst. Mit so einer Nachricht hatte er schon die ganze Zeit gerechnet. Sein Dad wurde allmählich immer schwächer und hinfälliger. Inzwischen lebte er seit zehn Jahren im Pflegeheim – ziemlich lange für jemanden mit seiner Krankheit. Luke kannte die Prognose genau. Aber das machte die Sache noch lange nicht einfacher.
„Okay, ich fahre sofort los“, sagte er.
„Luke?“
Er sah zu ihr herunter. Emily kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum. „Ja?“
„Wie kann ich dich jetzt am besten unterstützen?“
Er streckte eine Hand nach ihr aus. „Komm, steig auf. Dann reiten wir zusammen zum Haus.“
„Aber … ich komme da nicht hoch.“
„Doch, natürlich. Moment, ich nehme meinen Fuß aus dem Steigbügel. Dann kannst du mir deine Hand geben und dich hochziehen. Komm schon, ich muss sofort in die Stadt.“
Emily setzte einen Fuß in den Steigbügel und klammerte sich an Lukes Arm fest. Dann schwang sie ein Bein über das Pferd und setzte sich hinter ihm in den Sattel. Er rückte ein Stück vor, um ihr etwas mehr Platz zu verschaffen, dennoch waren ihre Körper so eng aneinandergedrückt, dass er jede ihrer Bewegungen deutlich spürte. Es kam ihm vor wie eine süße Folter.
Luke schluckte. Wenn Liz mitten am Tag anrief, stand es nicht gut um seinen Vater.
„Wo ist eigentlich Sam?“
„Noch mit den Zwillingen beim Ferienprogramm. Das sagte ich doch gerade.“
Ja, natürlich. Wieso hatte er das vergessen? War er auch schon krank? Ein Gefühl von Panik machte sich in Luke bereit. Doch er versuchte, sich zu beruhigen: Ich bin einfach ein bisschen durcheinander. Dass er Sams Ferienprogramm vergessen hatte, war bestimmt nur der Situation geschuldet. Die Nachricht von seinem Vater hatte ihn erschreckt, mehr nicht.
Emily hatte keine Ahnung, was gerade in ihm vorging. Wie sollte sie? Sie wusste zwar inzwischen, was mit seinem Vater los war, hatte all die anderen Hinweise aber nicht damit in Verbindung gebracht. Die vielen Listen im Haus zum Beispiel oder die akribisch geordneten Werkzeuge.
Sie hielt sich mit einer Hand an seinem Oberkörper fest. Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn sie beide Arme um ihn schlang und sich noch fester an ihn drückte? Aber darüber durfte er jetzt nicht nachdenken. Jetzt ging es um etwas anderes: Er musste so schnell wie möglich ins Pflegeheim zu seinem Vater. Vielleicht war es das letzte Mal.
„Halt dich gut fest“, rief er Emily zu. Sie legte beide Arme fest um seine Taille, und Lukes Herz machte einen kräftigen Satz. Dann gab er dem Wallach die Sporen, und sie galoppierten zum Haus.
8. KAPITEL
Liz und Cait warteten vor dem Pflegeheim auf einer Bank, als Luke und Emily aus dem Auto stiegen. Caits Tochter Janna schlief in einer Babytrage, Alyssa saß im Buggy und spielte mit einer bunten Holzkette. Liz stand auf, lief ihrem Bruder entgegen und drückte ihn fest an sich. Cait war nicht ganz so schnell. Als seine Schwester vor ihm stand, schloss er sie in die Umarmung mit ein.
Emily blieb in einiger Entfernung von ihnen stehen, beobachtete die drei aber aufmerksam. Sie blinzelte. Der Anblick der drei Geschwister, die ihren Schmerz und ihre Trauer miteinander teilten, trieb ihr die Tränen in die Augen.
Schließlich ließ Luke seine Schwestern los, um ihnen die entscheidende Frage zu stellen. „Was ist mit Dad?“
Liz schluchzte auf, also antwortete Cait: „Er ist gestern Nacht gestürzt. Es ist zwar nichts gebrochen, aber der Arzt meinte …“
Cait holte einmal tief Atem und fuhr mit stockender Stimme fort.
„Er meinte, es sei jetzt an der Zeit, ihn in ein Hospiz zu bringen.“
Obwohl Luke anzusehen war, wie qualvoll diese Nachricht für
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