Küss mich, Sweetheart: Roman (German Edition)
Gerüche der Stallungen um die Nase.
Auf beiden Seiten der Straße lagen Felder. Der Mais auf seiner Seite war auf dem besten Weg, sein Wachstumssoll zu erfüllen: »kniehoch dabei am vierten Julei«. Auf der linken Seite stand ein weißes Holzbauernhaus. Die Trompetenlilien standen in voller Blüte und regneten ihr intensives Pink über einen verwitterten Zaun. Eine amerikanische Flagge flatterte majestätisch im Wind. Auf einer alten Wäscheleine hing Wäsche zum Trocknen. Es ging vorbei an vereinzelten roten Scheunen, einer Schar kanadischer Gänse und einer Herde von Milchkühen; auch ein, zwei Pferde fehlten nicht, und gelegentlich sah man sogar das zu dieser Idylle gehörige schmutzstarrende Schwein.
Gillian hätte tatsächlich beinahe eine Zwei-Zentner-Sau angefahren, die irgendwie aus ihrem Koben entwichen war und gerade über die Straße in das angrenzende Feld lief.
Mach das Beste aus deiner Freiheit, Schwein. Das Leben kann ganz schön bescheiden sein, und ehe du dich versiehst, bist du Schinken.
Die Frau neben ihm war unvermindert fröhlich. »Möglicherweise hast du heute Nacht nicht genug Schlaf bekommen, Sam. Wenn du möchtest, können wir meine Fahrstunde gerne verschieben.«
»Schlaf beziehungsweise Schlafmangel hat damit nichts zu tun«, entgegnete er bockig.
»Möchtest du mir nicht erzählen, warum du sauer bist?« Sie klang genauso wie seine Lehrerin in der dritten Klasse.
»Ich bin nicht sauer.«
»Doch, bist du wohl.«
Er zählte bis zehn, und noch einmal bis zehn, und sagte dann mit etwas lauterer Stimme: »Nein, bin ich nicht.« Dabei artikulierte er noch deutlicher, als seien Lautstärke und Betonung überzeugende Argumente.
Augenscheinlich stand für sie von vornherein fest, dass er ärgerlich war. »Du sagtest doch neulich, sich zu ärgern sei Zeitverschwendung.« Sie ließ sich kaum Zeit, um Luft zu holen. »Du hast gesagt …«
»Ich weiß, was ich gesagt habe.« Sam rieb sich über die Kinnpartie, als wollte er sie mit der Hand abschrubben. »Ich habe so viel am Hals, und mir geht so viel durch den Kopf, das ist alles.« Er atmete erschöpft aus. »Vielleicht war es ein Fehler, dir zu einem Pick-up zu raten.«
Gillian heftete den Blick auf die unbefestigte Straße vor ihnen. »Ich dachte, wenn ich einen Pick-up mit Knüppelschaltung fahren kann, kann ich so ungefähr alles fahren. Das waren doch deine Worte.«
Manchmal konnte die Frau einen rasend machen. Zum einen hatte sie diese enervierende Angewohnheit, sich an alles zu erinnern, was er einmal gesagt hatte, und ihn dann zu zitieren.
Zum anderen hatte sie dann auch noch meistens Recht.
Er lümmelte sich in seinen Sitz, zupfte einen nicht vorhandenen Fussel vom Bein seiner Bluejeans und trommelte mit den Fingern auf der Kante des Fensters herum. »Das stimmt.«
»Und warum dann dieser Meinungsumschwung?«
Er suchte krampfhaft nach einer Antwort. »Für eine Frau ist ein Pick-up ziemlich schwer zu fahren. Vor allem für eine so zarte Frau wie dich.« Die Erklärung klang selbst in seinen Ohren ziemlich lahm.
»So zart bin ich gar nicht«, erwiderte Gillian in dieser selbstironischen und im Augenblick ziemlich nervenden Art, die ihrer Fähigkeit entsprach, über sich selbst zu lachen. »Ich bin schon mit größeren Dingen fertig geworden.«
»Darauf wette ich.«
Er war im Augenblick wirklich unausstehlich, aber das kümmerte ihn nicht. Er war sauer auf die Welt im Allgemeinen und auf sich im Besonderen. Er hatte gegen eines seiner Hauptprinzipien verstoßen, hatte sich privat auf eine Klientin eingelassen – sofern man ein paar Küsse und die Fummelei an jenem Abend im Park als Einlassen bezeichnen konnte – und bezahlte nun den Preis dafür. Er bekam nicht genügend Schlaf, er aß nicht richtig, seine Konzentration war dahin und seine Geduld ebenfalls.
Und er hatte den Wunsch dreinzuschlagen.
»Bieg nach Norden auf die County Road 400 ab. Zur Erklärung für euch Stadtleute: Das ist genau bei der nächsten Kreuzung«, sagte er in abfälligem Ton.
Sie wusste, wo es nach Norden ging. Dafür gab es schließlich den Kompass auf ihrem Armaturenbrett.
Sie wusste auch, dass Sam schlechte Laune hatte. Sie wusste allerdings nicht, warum. Dass er nicht gut drauf war, war ihr in dem Moment klar gewesen, als er an diesem Morgen an ihrer Tür aufgetaucht war: unrasiert, das Hemd nur notdürftig in die Hose gestopft und die Augen hinter dunklen Gläsern versteckt. Auch seine Einsilbigkeit war ein todsicheres Indiz
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