Kuess mich toedlich
Jemand wie ich ist kein Überlebender, jemand wie ich ist ein Opfer. Menschen wie ich finden keine Auswege, nur Fluchtmöglichkeiten. Du hast einmal gesagt, dass ich stärker bin oder es sein könnte, wenn ich es wollte. Hast du das ernst gemeint? Oder hast du das nur gesagt, weil du es von der Frau, in die du dich verliebt hast, glauben musstest oder wolltest? Ist es das, was du willst? Dass ich stark für dich bin? Kann ich das? Kann ich?
Ben,
fast drei Wochen. Ich sehe in den Spiegel, und eine fremde Frau blickt mir entgegen. Würdest du mich so noch erkennen? Du schon, da du ja selbst immer Masken tragen musstest. Mein Haar ist anders, meine Kleidung, mein Gesicht und ich zwinge mein Inneres, auch anders zu sein. Dein Geld hilft. Es hilft, die Tabletten zu bekommen. Auf dem Schwarzmarkt, ohne Verschreibung. Du hast mir viele nützliche Hinweise hinterlassen, wie ich mit meiner Gabe umgehen lerne, aber erst die Tabletten helfen mir, dass ich schlafen kann.
Verzeih mir!
Aber Ben, wenn du mich vor ein paar Tagen gesehen hättest … Ich wäre vor Angst fast gestorben, als ich zwischen all diesen finsteren Leuten durchmusste, um zu der Sozialapotheke zu kommen, in der Hand mein gefälschtes Schwarzmarktrezept. Aber dann fiel mir ein, dass ich jetzt mehr als tot sein könnte, und es nichts gibt, was man mir noch nehmen kann. Also hab ich’s hingekriegt, die Pillen besorgt, sie genommen und geschlafen, seit langer Zeit wieder einmal geschlafen, ohne Albträume, ohne Angst.
Zumindest bis zum nächsten Morgen.
Es gibt immer einen nächsten Morgen. Zuerst musste ich mich oft übergeben, aber seit ich sie unten behalten kann, spüre ich die Wirkung. Noch etwas ist geschehen, ich habe jemanden berührt. Irgendjemanden in der U-Bahn. Und sogar als ich es erzwingen wollte, habe ich nichts gesehen. Ich denke, ich kann es kontrollieren …
Ich bekomme die Pillen nicht mehr in der Apotheke, also bin ich wieder auf den Schwarzmarkt. Ausgerechnet ich. Ich hab ihm alles abgekauft, was er hatte. Schließlich sind sie illegal, so völlig ohne Rezept. Aber sie funktionieren. Bringen traumlosen Schlaf.
Woher wusstest du es? Woher wusstest du, dass ich stark genug bin, es unter Kontrolle zu halten, wenn nicht einmal ich es wusste? Aber Ben, auch wenn du mir böse bist, ich kann nur so da draußen überleben und unbemerkt bleiben, wenn ich die Pillen nehme, um schlafen zu können und wenn ich meine Fähigkeiten blockiere, um die anderen von mir fernzuhalten …
O Gott, ich tu’s schon wieder, ich denke an dich, als wärst du noch da. Als könntest du mir noch böse sein! Sind das vielleicht die Tabletten oder bin ich das Problem?
Ben,
hat es uns je gegeben? War ich je so ängstlich und schwach? Ist das mit uns wirklich alles passiert?
Manchmal, wenn ich zur Arbeit gehe und der Tag einfach so dahingeht, fällt es mir schwer, zu glauben, dass es je ein anderes Leben gegeben hat, dass da diese andere Frau war, die ich gewesen sein soll. Seltsamerweise erscheint sie mir nur noch real, wenn ich an Dinge denke, die mit dir zu tun haben. Aber oft macht das die Dinge noch schlimmer. Denn nach all diesen Monaten gelingt es mir nicht, mich an jedes Detail deines Gesichts oder deines Körpers zu erinnern. Erst, wenn ich mir das Schlimmstmögliche antue, und mich in einer Erinnerung oder einem Moment verliere, sehe ich dich, uns, ganz klar vor mir und es ist so schmerzhaft, dass es mich zu zerreißen droht. Oft muss ich dann diesen Schnappriegel in meinem Inneren, den ich jetzt habe, benutzen, um von da wegzukommen.
Es gelingt nicht immer. Meine Gabe ist dafür ein zu fähiger Komplize. Bei anderen Dingen, wie mein früheres Leben, mein Vater, sogar bei meiner Mutter, meiner sechzehnjährigen Verzweiflungstat oder Gedanken an die Familie, da klappt es, aber bei dir brauche ich härtere Maßnahmen. Maßnahmen wie eine Flasche Wodka oder Whiskey, bei der in einer Bar niemandem auffällt, wenn sie viel leerer geworden ist, als sie eigentlich sein sollte. Und wir beide wissen, ich vertrage nichts, deshalb wirkt es. Ich vergesse, alles wird weich und treibt davon. Auch wenn es nur für diesen einen schrecklichen Moment hilft, es den Schmerz betäubt, aber ihn nicht nimmt, ist es alles, was ich habe, um mich nicht wieder von dir in den Abgrund stürzen zu lassen. Und da ich jetzt weiß, was dort auf mich lauert, versuche ich, fernzubleiben. Sogar der Tod wäre mir lieber, als noch einmal die frische Trauer um dich durchleben zu
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