Küsse im Morgenlicht
Blick zu und musterte seinen Gesichtsausdruck, ehe sie wieder in die andere Richtung schaute. Er war ganz darauf konzentriert, seine Tiere zu führen, und Amelia wollte ihn nicht ablenken. Sie wollte nicht, dass er an sie dachte oder wieder über ihre Beziehung nachgrübelte, womöglich gar darüber nachdachte, wie diese sich nun weiterentwickeln sollte oder auch wiederum nicht. Wann und wie sie den nächsten Schritt wagen wollten. Denn sie waren doch beide wesentlich besser dran, wenn Luc diese Überlegungen ganz einfach ihr überließ.
Aber natürlich hatte auch Amelia nachgedacht - ihre eigenartige Diskussion am vergangenen Tag hatte ihr dazu wirklich allen Anlass gegeben. Es war schließlich schon sehr verwirrend, dass Luc den Höhepunkt ihrer intimen Beziehung trotz seines Verlangens - und trotz ihres Verlangens - unbedingt noch eine Weile hinausschieben wollte. Das alles erschien Amelia so merkwürdig, dass sie es zuerst gar nicht so recht glauben konnte, und sie hatte lange und ernsthaft darüber nachdenken müssen, ehe sie sich sicher war, dass sie all die zahlreichen Gründe, die hinter Lucs Zögern standen, auch wirklich alle nachvollzogen hatte.
Nachdem sie aber endlich erahnte... nachdem sie endlich klar erkannte, dass es für dieses Verhalten nur zwei mögliche Beweggründe geben konnte, und dass ihrer Meinung nach keiner dieser Gründe von ausreichendem Gewicht war, um mindestens noch eine weitere Woche der müßigen Tändelei zwischen ihnen zu rechtfertigen, da fühlte sie sich nicht etwa niedergeschlagen - nein, sondern sie fühlte sich von einem ganz neuen Hochgefühl erfüllt. Sie war voller Vorfreude und geradezu beseelt von dem festen Vorsatz, diese ganze, mittlerweile vollkommen überflüssige Brautwerbung endlich zu einem Ende zu führen.
Luc hatte abgestritten, dass ihre langjährige Bekanntschaft miteinander irgendeinen Einfluss auf seine Entscheidung hätte, und bis zu einem gewissen Grade glaubte Amelia ihm dies sogar. Dennoch hatte er sie immer so gesehen, wie er auch seine Schwestern betrachtete und noch diverse andere seiner zärtlich geliebten, weiblichen Verwandten - sie alle waren für ihn Frauen, die es zu beschützen galt, und die er vor sämtlichen Gefahren bewahren musste. Eine dieser stets gegenwärtigen Gefahren waren zum Beispiel jene Gentlemen in den Kreisen der besseren Gesellschaft, die man gerne auch nur als »die Wölfe« bezeichnete. Und wenn man dann noch bedachte, dass Luc in Amelia nun seine zukünftige Frau gefunden hatte - er hatte immerhin zwei ganze Wochen lang Zeit gehabt, sich langsam an diesen Gedanken zu gewöhnen -, so war es letztlich gar nicht so verwunderlich, wenn er sich nun plötzlich auch selbst als eine gewisse Gefahr für Amelia betrachtete. Zumal seine Gedanken an sie unter normalen Umständen, und wenn Amelia nun nicht schon bald seine Ehefrau würde, auch in der Tat recht verwerflich wären.
Der arme Luc, er war ganz einfach verwirrt. Nun saß er tatsächlich in der sprichwörtlichen Klemme, war Gefangener seiner eigenen, aus seinem tiefsten Inneren entspringenden Kriegerinstinkte. Und Amelia konnte sein Dilemma durchaus nachvollziehen. Denn sie erinnerte sich daran, dass einige ihrer Cousins schon einmal auf ganz ähnliche Weise hin und her gerissen gewesen waren zwischen ihrem Verlangen und ihrem Verantwortungsgefühl - sie waren allesamt ebenfalls in ihre eigene Falle getreten.
Nur leider half es wenig, einfach darüber zu lachen, denn sie alle nahmen derlei Angelegenheiten viel zu ernst. Und mal ganz abgesehen davon, dass ein herzhaftes Lachen keinerlei Hilfe war, sollte Amelia Lucs Temperament wohl besser ohnehin nicht noch weiter reizen - zumindest, wenn sie ihn irgendwann doch noch dazu bewegen wollte, diese Skrupel, wie sie wohl nur einen echten Kavalier plagen konnten, endlich über Bord zu werfen.
Im Übrigen war der zweite Grund, den sie sich als Ursache für Lucs plötzliche Zurückhaltung vorstellte, schon wesentlich leichter nachzuvollziehen. Denn dieser basierte schlicht und einfach auf seinem störrischen männlichen Ego. Luc hatte von Anfang an unmissverständlich klargemacht, dass er mindestens vier Wochen lang offiziell um sie würde werben müssen, ehe man davon ausgehen durfte, dass ihre Heirat jene soziale Anerkennung finden würde, die er für sie verlangte. Und darum würde er sich allein von der Tatsache, dass er und Amelia dieses Ziel nun allem Anschein nach bereits in der Hälfte der Zeit erreicht hatten - die
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