Kuessen gut, alles gut
das Gesicht laufen. Sie war in der Arbeit gewesen, als einer der Anwälte ihres Vaters sie telefonisch benachrichtigt hatte. Ihre Mutter hatte ihre Telefonnummer rausgerückt, und das hatte sie mehr aufgeregt als der Tod ihres Vaters. Sie hatte dem Anwalt gesagt, dass es ihr gleichgültig wäre. Und das war es auch.
Warum also fühlte sie sich plötzlich so einsam und leer? Es war mehr als lächerlich. Ihr Vater hatte sie sein Leben lang nicht gewollt. Hatte nicht einmal Sadie von ihr erzählt. Selbst wenn Clive hundertzehn geworden wäre, hätte er immer noch nichts mit Stella zu tun haben wollen. Warum also fühlte es sich auf einmal so an, als fehlte ein Teil von ihr? Sei ihr abhandengekommen? Für immer verloren. Ein Teil, den sie nie besessen hatte.
Stella duschte zu Ende und trocknete sich die Haare mit einem Handtuch. Sie stieg in einen rosa Slip und hüllte sich in einen dicken weißen Hotelbademantel. Der Mantel fühlte sich an wie eine warme Umarmung, und sie wischte mit der Hand über den Badspiegel. Durch den Dampf und die Wischspur, die ihre Hand hinterlassen hatte, starrte sie ihr Gesicht an. Sie ähnelte ihrer Mutter mehr als ihrem Vater, aber die Augen hatte sie von ihm. Blau wie der texanische Himmel, unter dem er sein ganzes Leben gelebt hatte.
Auf dem Weg in den Flur schnappte sie sich die Haarbürste von der Ablage. Kalte Luft strömte aus den Schlitzen der Klimaanlage und strich über ihre nackten Beine, als sie die Treppe hinunterstieg. Sie fuhr sich mit den Borsten durchs Haar und öffnete die Flügeltür zum Balkon. Der schwüle Louisiana-Abend hüllte sie in rotgoldene Schatten, während die wenigen letzten Augenblicke des Sonnenuntergangs die schweren Wolken von oben erleuchteten. Die Bourbon Street wurde von leuchtenden Neonröhren und Ladenzeilen erhellt, die von Porzellanmasken über Hurricane-Cocktails bis hin zu Lap Dances alles Mögliche feilboten.
Stella setzte sich auf einen schmiedeeisernen Stuhl und bürstete sich die Haare aus. Zwei Etagen unter ihr in der Altstadt drängten sich die Touristen, deren Gelächter und Stimmen sich mit den Jazz- und Zydeco-Melodien, die aus den Kneipen drangen, und dem Geruch von Essen und uralten Rohrleitungen vermischten. Zwei Balkone weiter teilte sich ein Paar unter den rotgoldenen Streifen am dämmrigen Himmel eine Flasche Wein; das Klirren ihrer Gläser und ihre gesenkten Stimmen waren kaum zu hören. Als sich eine Zimmertür öffnete und wieder schloss, schlug Stella die Füße unter und zog ihren Morgenmantel fester um sich. Sie wusste nicht, ob es ihre Tür war oder nicht, bis sie ein warmes Kribbeln im Rücken spürte, als von der Balkontür aus ein dunklerer Schatten über sie fiel.
»Hast du Hunger?«, fragte Beau.
»Ein bisschen.« Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu. Auf seine kräftige Silhouette, die von hinten beleuchtet war, als sei er ein Heiliger. Alles, was ihm noch fehlte, war ein feuerrotes Herz Jesu. »Und du?«
»Kasper hat mich bewirtet, aber ich kann immer essen.« Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, spürte jedoch seinen Blick. Ein Blick, der für einen Heiligen zu heiß, zu sinnlich war. »Gib mir zehn Minuten, um zu duschen. Ich kenne ein kleines Restaurant ein paar Straßen weiter.«
»Klingt gut«, sagte sie. Er wandte sich zum Gehen.
Stella stand auf und fuhr sich mit den Fingern durch die noch feuchten Haare. Sie trat ans Geländer und sah auf die belebte Straße. Sie konnte erst nach oben gehen und sich anziehen, wenn Beau fertig war. Vielleicht konnte sie schnell nach oben flitzen, sich ein paar Klamotten schnappen und sich unten anziehen, aber sie wollte lieber warten, bis sie sich im Bad ein wenig zurechtmachen konnte. Sie sah auf die belebte Straße. Auf Freunde, Familien und Liebespaare. Sie fühlte sich in diesem Moment so einsam. Warum gerade jetzt? Auf die eine oder andere Art war sie immer einsam gewesen. Nicht direkt einsam, aber anders. Ihr Vater hatte ihr Geld gegeben, damit sie sich von seiner Familie fernhielt, und in die Familie ihrer Mutter hatte sie nie richtig gepasst. Was wahrscheinlich eher ihre Schuld war. Sie hatte sich nie bemüht, die Sprache richtig zu lernen und ihre lateinamerikanischen Wurzeln anzunehmen. Sie war zwar in der Kultur aufgewachsen, hatte sich jedoch nie darum bemüht zu erfahren, warum Mädchen keinen roten Nagellack tragen durften. Sie fand das nur blöd. Mit fünfzehn hatte sie ganz traditionell Quinceañera gefeiert, samt aufwendigem weißem Kleid
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