Küssen will gelernt sein: Roman (German Edition)
Sie hatte stets die Freiheit gehabt, ihre Siebensachen zu packen und wegzuziehen, wenn ihr danach war. Sie hatte ihr Leben immer kontrollieren können. Immer ein Ziel gehabt. Doch jetzt war alles vage, unklar und außer Kontrolle. Und Nick Allegrezza war mittendrin.
Er war einer der Hauptgründe, warum ihr Leben so verkorkst war.
Delaney stand auf und lief ins Schlafzimmer. Sie wünschte, dass sie Nick die ganze Schuld in die Schuhe schieben könnte. Dass sie ihn vorbehaltlos hassen könnte, aber aus irgendeinem Grund ging das nicht. Er machte sie zwar wütender als sonst jemand in ihrem Leben, aber sie war noch nie in der Lage gewesen, ihn richtig zu hassen. Ihr Leben wäre viel leichter gewesen, wenn sie es gekonnt hätte.
Als sie an jenem Abend einschlief, hatte sie wieder einen Traum, der schnell in einen Albtraum ausartete. Sie träumte, es sei Juni und sie hätte die Bedingungen in Henrys Testament erfüllt. Endlich konnte sie Truly verlassen.
Sie war frei, und ihr war ganz schwindelig vor Freude. Die Sonne schien auf sie herab, tauchte sie in ein Licht, das so hell war, dass sie kaum etwas sehen konnte. Endlich fror sie nicht mehr, und sie trug ein Paar umwerfende violette Plateauschuhe. Schöner konnte das Leben nicht sein.
Max war auch in ihrem Traum und reichte ihr einen riesigen Scheck, als hätte sie im Lotto gewonnen. Sie schob ihn auf den Beifahrersitz ihres Miata und sprang in den Wagen. Mit drei Millionen Dollar neben sich fuhr sie aus der Stadt und fühlte sich, als sei ihr eine gewaltige Last von den Schultern genommen, und je näher sie den Stadtgrenzen Trulys kam, desto unbeschwerter fühlte sie sich.
Doch die Fahrt zur Stadtgrenze schien sich stundenlang hinzuziehen, und gerade, als die Freiheit nur eine knappe Meile entfernt war, verwandelte sich ihr Miata in ein Matchbox-Auto, und sie stand mit dem Riesenscheck unterm Arm am Straßenrand. Delaney betrachtete das winzige Auto an der Spitze ihres rechten violetten Plateauschuhs und zuckte mit den Achseln, als würde so etwas ständig passieren. Sie steckte das Auto in
die Tasche, damit es nicht geklaut wurde, und ging zu Fuß weiter zur Stadtgrenze. Doch wie lange und wie schnell sie auch lief, das »Auf-Wiedersehen-in-Truly«-Schild blieb in der Ferne kaum sichtbar. Sie fing an zu rennen und lehnte sich zu einer Seite, um die Last ihres Dreimillionen-Dollar-Schecks auszugleichen. Der Scheck wurde immer schwerer, doch sie weigerte sich, ihn zurückzulassen. Sie rannte, bis sie Seitenstechen bekam und nicht mehr konnte. Die Stadtgrenze jedoch blieb in weiter Ferne, und Delaney wusste mit schrecklicher Gewissheit, dass sie für immer in Truly festsaß.
Sie saß kerzengerade im Bett, einen stummen Schrei auf den Lippen. Sie war klitschnass geschwitzt und atmete schwer.
Sie hatte den schlimmsten Albtraum ihres Lebens gehabt.
ZWÖLF
Aus den anderthalb Meter hohen Lautsprechern in Bürgermeister Tanasees Dodge Pick-up-Truck schallte »The Monster Mash«. Unechte Spinnennetze umwoben den Kleintransporter, auf dessen Ladefläche zwei Grabsteine thronten. Mit Hexen und Vampiren, Clowns und Prinzessinnen im Schlepptau zuckelte der Dodge die Hauptstraße entlang. Das aufgeregte Geplapper von Kobolden und Gespenstern vermischte sich mit der Musik und bildete den Auftakt zur alljährlichen Halloweenparade.
Delaney stand in der bescheidenen Zuschauermenge vor ihrem Salon und kuschelte sich fröstelnd in ihren grünen Wollmantel mit den glitzernden Riesenknöpfen. Sie fror erbärmlich, im Gegensatz zu Lisa, die im B.U.M.-Sweatshirt und mit Baumwollhandschuhen neben ihr stand. Die Lokalzeitung hatte für den letzten Oktobertag eine der Jahreszeit nicht angemessene Wärme vorausgesagt. Die Temperatur sollte angeblich bis zu unglaublichen vier Grad Celsius in die Höhe schnellen.
Als Kind hatte Delaney die Halloweenparade geliebt. Sie hatte sich leidenschaftlich gern verkleidet und war mit Begeisterung durch die Stadt bis zur Turnhalle der Highschool marschiert, wo direkt im Anschluss der Kostümwettbewerb ausgetragen wurde. Sie hatte zwar nie gewonnen, fand es aber trotzdem toll. Es war eine willkommene Gelegenheit gewesen, sich zu verkleiden und sich eine dicke Schicht Schminke ins Gesicht zu kleistern. Sie fragte sich, ob es dort immer noch
Cidre und glasierte Doughnuts gab und ob der neue Bürgermeister wie Henry früher kleine Tüten mit Süßigkeiten austeilte.
»Weißt du noch, wie wir uns in der sechsten Klasse die Augenbrauen abrasiert haben,
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