Küstenfilz
Telefonnummer der Polizeiinspektion Göttingen heraus, wurde mit
dem zentralen Kriminaldauerdienst verbunden und landete schließlich beim
vierten Fachkommissariat, das für Staatsschutzdelikte und politisch motivierte
Straftaten zuständig ist. Lüder vermied es, dem Göttinger Kollegen die
Hintergründe auseinanderzusetzen, bat aber auf dem kurzen Dienstweg um
Amtshilfe. Der Dienststellenleiter, ein Hautkommissar, sicherte Lüder zu,
spätestens am nächsten Tag das Göttinger Unternehmen aufzusuchen und sich um
die Einholung der gewünschten Informationen zu bemühen.
Frau Dr. Braun von der naturwissenschaftlichen
Kriminaltechnik zeigte sich erstaunt, als Lüder sie anschließend anrief.
»Wissen Sie, wie spät es schon ist? Ich hatte gehofft,
ein Mal – wenigstens ein Mal – den Arbeitsplatz zu einer Zeit verlassen
zu können, die für alle anderen Leute als selbstverständlich gilt.«
»Liebe Frau Dr. Braun, ich denke, es gibt jede Menge
Mitbürger, für die das Arbeiten um diese Zeit der Normalfall ist oder die jetzt
erst Arbeitsbeginn haben.«
»Ich glaube, nicht, dass das vergleichbar ist.« Die
Wissenschaftlerin sprach in einem nahezu jammernden Tonfall. »Ich hoffe, Sie haben
nicht noch etwas auf dem Herzen.«
»Ich fürchte, doch«, erklärte Lüder und bat um zwei
Kriminaltechniker, die ihn nach Schleswig begleiten sollten.
»Muss das unbedingt sein? Die Leute arbeiten an der
Belastungsgrenze. Niemand in diesem Haus hat Verständnis dafür, was uns
abverlangt wird.«
»Wir alle wissen Ihre Arbeit zu schätzen. Leider hat
es sich aber noch nicht bis in die Ganovenkreise herumgesprochen, dass Sie
einem standardisierten Arbeitstag den Vorzug geben würden.«
Lüder hörte, wie die Frau die Luft tief einsog.
»Ich hatte bisher nicht gewusst, dass auch Sie zu
denjenigen gehören, die stets nur ihre eigene Arbeit über Gebühr zu loben
wissen«, empörte sich Frau Dr. Braun.
Wenig später saß Lüder mit einem Oberkommissar und
einem Zivilangestellten des Landeskriminalamts im Auto und fuhr Richtung
Schleswig. Sie kamen nur mühsam voran, weil es den Anschein hatte, als würden
alle Bürger des Landes Frau Dr. Brauns Überzeugung bestätigen wollen, dass
außer der Wissenschaftlerin niemand mehr arbeiten würde und alle um diese Zeit
den Heimweg antraten.
Seine beiden Begleiter waren erfreulicherweise
schweigsame Leute und hatten sich auf der Fahrt von Lüder erläutern lassen,
weshalb er um ihre Unterstützung gebeten hatte. Alle beide schienen den Einsatz
als Normalität zu betrachten und zeigten nicht einen Hauch von Unmut über die
Aktion.
Sie parkten auf dem Platz neben dem versifften Teich.
In der Einfahrt vor dem Haus der Bürgermeisterin standen zwei Fahrzeuge.
Lüder klingelte an der Haustür. Es dauerte eine Weile,
bis der Chemielehrer die Tür öffnete. Blasius machte einen müden Eindruck. Er
trug eine abgewetzte Jeans und ein an den Ärmeln und am Kragen abgestoßenes
Sweatshirt. Er hatte Lüder wiedererkannt und brummte: »Was kann ich für Sie
tun?«
»Uns hereinbitten.«
Blasius machte keine Anstalten, die Tür weiter zu
öffnen.
»Wieso?«, fragte er stattdessen.
»Meine beiden Kollegen würden sich gern Ihr Labor
ansehen. Sie interessieren sich brennend für bestimmte Fragen.«
»Muss ich das? Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«
»Durchsuchungsbeschluss heißt das. Ich denke, Sie
werden uns auch ohne hereinbitten. Stellen Sie sich vor, wie sich die
Schleswiger daran begeistern könnten, wenn im Hause ihrer Bürgermeisterin ganz
offiziell ein Polizeikommando antritt. Und Ihre Schüler hätten sicher auch für
eine Weile anregenden Gesprächsstoff. Nun sagen Sie schon ›Danke, Herr
Lüders‹.«
Blasius machte keinen glücklichen Eindruck.
»Wofür soll ich mich bedanken?«
»Dass Ihre Nachbarn glauben, drei nette Freunde hätten
an Ihrer Tür geklingelt.« Lüder wies mit dem Kopf zum Nachbarhaus, wo ein
älterer Mann im durchgeschwitzten Unterhemd im Vorgarten arbeitete und das
Geschehen an der Haustür der Familie Blasius als willkommene Unterbrechung
betrachtete.
Der Lehrer trat einen Schritt zurück und öffnete die
Haustür ganz. »Kommen Sie rein.«
Er führte die drei Beamten zu einer Kellertreppe und
stieg die nackten Betonstufen abwärts. Durch einen mit einer trüben Funzel
ausgeleuchteten Vorkeller erreichten sie Blasius’ Labor. Es war offensichtlich
der ehemalige Waschkeller des Hauses, in dem jemand eine alte Küche eingebaut
hatte. Auf den
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