Kurier
und schaute irgendwohin. Dann stand
sie auf.
Das Treppenhaus war ein schmutziger Albtraum, die Wände
waren von der Decke bis zu den Holzdielen vollgesprüht mit Tags. Grau las den
ersten Spruch: Lieber ein Geschwür am
After als ein deutscher Burschenschaftler. In Grellpink. Darüber in
Schwarz: Hitler war Scheisse! ,
daneben: Ja, das stimmt. Für die Juden!
»Bis gleich«, unterbrach Zora seine Betrachtungen und
verschwand erstaunlich flink.
Grau sah ihr nach und registrierte, dass die Haustür
nicht abgeschlossen war. Also war Sigrid bestimmt schon im Haus.
»Geile Sprüche, was?«, fragte Geri. Es klang stolz.
»Sagenhaft«, nickte Grau. »Gefällt dir denn dein Leben in
Berlin?«
»Na klar«, sagte Geri und grinste ihn an. »Ist doch geil,
oder. Ich tue, was ich will, ich schlafe, wann ich will. Einfach super!«
»Das ist doch was«, sagte Grau ironisch.
Sie gingen langsam die Treppe hinauf. Jemand hatte in Rot
und Blau mit kräftigen runden Buchstaben gemalt: Das Leben ist ein Geschenk. Also kann damit machen, was ich will.
Auf den Stufen lag Gerümpel, Grau stieg über Lumpen, über
Bruchstücke von alten Möbeln, über Haufen von Pappe. Als er den ersten Stock
erreicht hatte, drehte er sich unvermittelt zu Geri um. Der hatte ein kurzes
Stück verrostetes Wasserrohr in der Hand, sein Gesicht war totenblass.
Grau erschrak zutiefst und er hatte das Gefühl, dass sein
Herz zu schlagen aufhörte. Er räusperte sich. »Lass doch den Unsinn!«
»Wieso?«, fragte der Junge fast tonlos und sichtlich verkrampft.
Grau überlegte, ob er es wagen könnte, Geri zu berühren.
Dann legte er ihm eine Hand auf die Schulter. »Du hast doch erlebt, dass ich
euch vertraue. Warum willst du jetzt so was machen?«
Geri ließ das Rohr fallen, es polterte unglaublich laut
ein paar Stufen hinunter, und dann sagte er: »Du gehst wieder weg.«
»Woher willst du das denn wissen?«
Es war zehn Minuten vor acht und Grau musste pünktlich
sein. Aber er geriet nicht in Panik. Er fühlte sich unglaublich sicher in
diesem lautlosen Haus, so sicher wie in Abrahams Schoß. »Es wäre auch nicht
sehr viel Geld«, erklärte er Geri, drehte sich wieder um und ging weiter.
Im zweiten Stock lag links die Behausung der Penner. Geri
ging jetzt vor Grau her und drückte die Wohnungstür einfach auf. Er sagte:
»Kein Mensch hat hier Schlüssel. Die haben alle Schlösser herausgebrochen. Das
finde ich gut.«
Die Wohnung war dunkel, es stank intensiv nach irgendetwas,
das Grau nicht identifizieren konnte.
»Vorsicht«, warnte Geri. »Die liegen hier überall auf dem
Boden rum.«
»Gibt es denn irgendeinen Raum, in dem keiner rumliegt?«
»Ja. Dort hinten ist so eine Art Balkon, der ist so
klein, dass nur einer reinpasst. Und da ist immer Atze. Der macht uns bestimmt
Platz.«
»Na denn«, sagte Grau.
»Moment«, hörte er Geri irgendwo vor sich sagen. »Die
haben Decken vor die Fenster gehängt. Oh, Scheiße, hier liegt was. Aha, eine
Hand. Also, du musst einfach drübersteigen.« Dann tauchte vor ihnen plötzlich
Licht auf.
Es war ein Wintergarten, vollgestellt mit Gerümpel. In
der Tür lag Sigrid auf einer alten Decke und starrte Grau höchst amüsiert mit
weit offenen Augen an.
Grau grinste. »Es ist alles okay. Jetzt kann ich was
sehen, jetzt hat die Welt mich wieder. Die Sache macht echte Fortschritte.«
»Was ist denn los?«, fragte jemand, der neben Sigrid lag.
Er gähnte laut.
»Atze, ich bin’s, Geri. Wir brauchen mal diesen Platz.
Kannst du dich woanders hinlegen?«
»Na sicher«, sagte der Mann. »Wie viel Uhr ist es denn?«
Grau half aus. »Gleich acht.«
»Dann haue ich sowieso ab«, krächzte Atze. »Ich kriege
heute Suppe und Brot bei den Barmherzigen Schwestern. Mittags wollen sie mir
sogar neue Klamotten geben.«
»Bleib lieber hier, hier gibt’s gleich Frühstück«,
verriet ihm Geri. »Dann gehste mittags zu den Schwestern.«
»Wenn du meinst«, sagte Atze gutmütig. Er war etwa
zwanzig Jahre alt. Er verschwand in der dunklen Wohnung. Sigrid blieb einfach
liegen. Sie setzte die Whiskeyflasche an, trank etwas, rülpste laut, grinste
Grau an und schloss die Augen wie ein sattes Kind. Atze fluchte im Hintergrund:
»Mensch, Kalle, rutsch doch mal!«
»Hast du Kinder?«, fragte Geri.
»Ja«, sagte Grau und hockte sich auf einen Stapel Stühle.
»Mehrere?«
»Nein. Nur eine Tochter.«
»Ist die gut drauf?«
»Sie ist tot.«
»Mensch, eh, wie?«
»Sie ist tot«,
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