Kurpfalzblues
Maria.
»Er hat sie!« Ein Schluchzen. »Er … er hat sie geholt!«
»Wer ist da?«
»Szeidel«, kam es stammelnd vom anderen Ende. »Ulrike Szeidel. Sie
ist weg! Er wird sie umbringen, ich weiß es. Und es ist meine Schuld! Es ist
alles nur meine Schuld!«
Jetzt erkannte Maria die Stimme wieder. Es war die Mutter von Sarah
Szeidel.
»Sarah?«, rief Maria in den Hörer. »Sarah ist verschwunden?«
»Nein!« Ein erneutes Aufschluchzen. »Nicht Sarah. Julie! Meine
Enkelin. Die Kleine. Die Kleine ist weg!«
Es war, als hätte ihr jemand einen Schlag in den Magen versetzt. Für
einen Moment glaubte Maria, keine Luft mehr zu bekommen.
Der Brief, den Sarah Szeidel in ihrem Briefkasten gehabt hatte! Die
Münze, die der Täter ihr hatte zukommen lassen. Es ging doch immer nur um Sarah
Szeidel! Wieso das Kind?
In fünf Minuten sei man da, versicherte Maria, bestimmt würde Julie
bald wieder auftauchen. Aber es gelang ihr nicht, Ulrike Szeidel zu beruhigen.
»Und, ist was Schlimmes passiert?«, fragte der junge Mann am
Spülbecken, der wohl ihr entsetztes Gesicht gesehen hatte.
»Nein, nein. Alles in Ordnung. Aber ich muss weg. Die Kollegen
kommen sicher gleich.«
Maria hastete aus der Wohnung. Noch während sie die Treppe
hinunterlief, holte sie ihr Handy hervor und rief Mengert an.
»Lies mir das Gedicht von diesem Hades noch einmal vor. Das, was an
Sarah Szeidel ging.«
»Was ist denn?«, fragte Mengert.
»Ihre Tochter ist verschwunden.«
»Oh nein, das darf doch nicht wahr sein!«
»Hol dieses Gedicht!«
Es dauerte, dann kam Mengert wieder an den Hörer.
»Da steht doch nur etwas von ›Braut‹ drin, oder nicht?« Maria hörte
selbst die Unsicherheit in ihrer Stimme. »Er holt sich seine Braut! Da steht
doch kein Wort von einem Kind?«
Mengert las – das Wort »Kind« kam in diesem Gedicht gar nicht vor,
das Wort »Braut« allerdings auch nicht.
»Die zweite Strophe, lies sie noch einmal vor!«
»Das mit der Maid?«
»Nun lies schon!«
»Also, da steht: ›Werd folgen dir, du süße Maid, werd spüren, ob du
bist bereit. Werd dich umfangen, dich berühren, ins Reich der Schatten dich
entführen.‹«
Süße Maid . Konnte er damit
ein kleines Mädchen meinen?
Kleine süße Maid ?
Tigerfutter
Julie war tot.
Davon war zumindest ihre Großmutter überzeugt. Ulrike Szeidel wohnte
wie ihre Tochter Sarah in Handschuhsheim, allerdings im westlichen Teil des
Ortes, dort, wo die Häuser an die Felder grenzten. Ein kleines Reihenhaus, bei
dem in einem Körbchen neben der Haustür ein gelbes Windrad zwischen dunkelroten
Astern Herbstidylle verbreitete.
Ulrike Szeidel hatte Maria die Tür geöffnet, das Gesicht verquollen
vom Weinen.
»Es ist alles nur meine Schuld«, brachte sie erstickt hervor.
Ohne Maria weiter zu beachten, ging sie voraus ins Wohnzimmer,
setzte sich auf das Sofa und presste ein Taschentuch vor den Mund.
Auf dem Couchtisch lagen Malsachen, ein Block, auf dem anscheinend
Julie herumgekritzelt hatte: ein Haus, das aussah, als würde es gleich
zusammenbrechen. Aus seinem Schornstein stieg gelber Rauch hervor, daneben ein
Wesen, das fast so groß war wie das Haus und entfernt Ähnlichkeit mit einer
Katze hatte. Und unten am Bildrand ein Gekritzel, das wohl »Mama« bedeuten
sollte.
»Glauben Sie, er hat ihr etwas angetan? Ich meine, bevor … Er wird
sich doch nicht an dem Kind vergangen haben, oder?«
»Seit wann ist Julie weg?«
»Seit fast drei Stunden.«
»Und warum rufen Sie jetzt erst an?«
Frau Szeidel schluchzte auf. »Ich wusste es doch nicht. Sie wollte
heute Morgen zur Nachbarin, da geht sie oft hin, wenn sie hier ist. Die hat
eine Tochter, die ist genauso alt wie Julie. Ich muss mich ja auch mal um was
kümmern. Ich kann nicht den ganzen Tag nur nach dem Kind sehen. Ich habe sie
rübergebracht.«
Sie wischte die Tränen weg.
»Heute Mittag wollte ich sie holen, aber da war sie nicht mehr da.
Sie ist nur eine Viertelstunde geblieben, dann wollte sie zurück zu mir. Die
Nachbarin hat sie durch den Garten geschickt, aber sie ist nicht angekommen.«
»Wie viel Uhr war es, als Sie Julie rübergebracht haben?«
»Das war vielleicht so gegen zehn.«
»Wo wohnt diese Nachbarin? Hier, direkt nebenan?«
»Es ist das nächste Gründstück. Links, gleich neben uns. Sie hat mir
noch geholfen zu suchen. Aber dann musste sie weg.«
Neben dem Wohnzimmerfenster war eine Glastür, die auf eine Terrasse
führte, dahinter lag der Garten. Ein kleines übersichtliches Grundstück,
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