Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
stark. Trotzdem wurden Eriks Finger steif, und er steckte die linke Hand in die Tasche, während er mit der verkrampften rechten das Brötchen hielt.
»Ende des Jahres wird das hier auch vorbei sein«, sagte er versonnen und betrachtete das weiße Haus an der Kliffkante, in dem Jürgen Gosch eines seiner vielen Fischrestaurants betrieb. Beide kehrten wie auf ein geheimes Zeichen dem Meer den Rücken zu und betrachteten das brachliegende Gelände hinter dem Fischrestaurant, wo einmal das »Haus des Kurgastes« gestanden hatte, die Anlaufstelle für Feriengäste, die Auskünfte oder Hilfe brauchten oder sich einfach aufwärmen wollten. Jetzt gab es dort nur eine provisorische Baracke, in der die Touristen-Information untergebracht war.
»Eine Schande ist das«, murmelte Erik. »Dieser Streit ums Kurhaus geht jetzt schon über Jahre.«
Sören nickte. »2005 wurden die Pläne für den Neubau vorgestellt.«
Erik lachte bitter. »Zwanzig Millionen Euro! Es musste natürlich gleich ein Hotel ins Kurhaus integriert werden, mit sechzig Zimmern und neun Läden! Und natürlich einer Tiefgarage! Dabei hatte es doch erst geheißen, das Kurhaus wolle sich in seinen Ausmaßen am Hotel Windrose orientieren. Ist das vielleicht ein Riesenkasten? Nein!«
»Dabei hatte es vorher geheißen, der Neubau der Kurverwaltung solle ohne Hotelbetten realisiert werden.« Sören tippte sich an die Stirn. »Aber plötzlich wollte niemand mehr was davon wissen.«
Erik sah nachdenklich in den Himmel. »Zum Glück konnte die Unterschriftenaktion den Bau damals stoppen.«
»Mit dem Ergebnis, dass Wenningstedt nun seit Jahren ein Kurhaus in einer Baracke hat und ein verwildertes unbebautes Gelände mitten im Kurzentrum. Na, toll!«, schnaubte Sören.
»Aber der neue Gosch wird sich wunderbar in die Dünenlandschaft einfügen«, meinte Erik versöhnlich.
»Es soll sogar ein begehbares begrüntes Dach haben«, ergänzte Sören. »Im Norden und Osten wird es mit Dünensand angeschüttet, und zum Meer hin soll es sich öffnen. Das wird sicherlich schön.«
Erik nickte und umschrieb mit einer großen Geste das brachliegende Gelände. »Wenn Gosch hier abgerissen wird, ist genug Platz für den Neubau des Kurhauses.«
»Mit Touristen-Info, ein paar kleinen Läden, Restaurants und Wellnessangeboten«, begann Sören zu schwärmen. »Alles, was ein Kurhaus braucht, aber auch nicht mehr. Wurde wirklich Zeit!«
Sören hielt immer noch sein Fischbrötchen in der Hand, als hätte er über das Wenningstedter Kurhaus seinen Hunger vergessen. Ein großer Fehler, wie sich kurz darauf herausstellte! Sie bemerkten den Schatten nicht, der sich über sie senkte, und die Gefahr, die sich näherte, erzeugte weder in Erik noch in Sören eine instinktive Abwehr. So war es der großen Silbermöwe ein Leichtes, auf das Matjesbrötchen hinabzufahren, den Schnabel hineinzuschlagen und sich blitzartig wieder in die Lüfte zu schwingen. Nur wenige Meter entfernt ließ sie sich seelenruhig nieder und begann genüsslich, das Brötchen auseinanderzunehmen.
In ihrer Nähe wurde gelacht, während Sören blass vor Schreck war und auch Erik der Schock ins Gesicht geschrieben stand. Beide betrachteten sie Sörens leere Hand, und erst als sein Assistent sie schloss und in die Jackentasche steckte, sagte Erik: »Es wird immer schlimmer mit der Gefräßigkeit der Möwen. Das kommt davon, dass die dummen Touristen sie so gerne füttern. Die Möwen haben gelernt, dass Futtersuche sehr einfach sein kann.«
Sörens Schreck verwandelte sich prompt in Zorn. »Menno Koopmann hat kürzlich noch im Inselblatt darüber geschrieben. Das Füttern der Möwen sollte unter Strafe stehen. Dann finden sie vielleicht zu ihrem artgerechten Verhalten zurück.«
Erik sah kurze Zeit so aus, als wollte er widersprechen. Immer, wenn vom Chefredakteur des Inselblattes die Rede war, kam dieser Widerstand in ihm auf. Selbst dann, wenn Menno Koopmann recht hatte.
»Sagen Sie mal, Chef …« Sören schien bei der Erwähnung von Koopmanns Namen eine Erinnerung zu kommen. »Was der da gestern gesagt hat … dass er diese Reporterin gar nicht kennt … Meinen Sie, wir sollten da mal nachhaken? Schon komisch, dass sie ihren Presseausweis nicht dabeihatte, finden Sie nicht auch?« Und vorwurfsvoll ergänzte er: »Sie hätten schon, als Sie die Leiche von Matilda Pütz gefunden haben, drauf bestehen müssen, dass sie sich ausweist.«
Erik sah Wiebke vor sich, die strahlenden Augen unter den roten Locken, die
Weitere Kostenlose Bücher