Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
befragt, die an der Demo beteiligt waren. Keiner hat was gesehen.« Er hielt einen Notizblock in die Höhe. »Namen und Adressen sind notiert. Die Leute habe ich nach Hause geschickt. Ich hoffe, sie gehen wirklich.«
Im selben Augenblick hörten sie Schreie auf der Straße, Beschimpfungen, Drohungen. Wörter wie »Aasgeier« und »Halsabschneider« drangen an Eriks Ohr, sogar »Todesbraut« wurde gerufen. »Wo die Matteuer ist, ist der Tod!«, schrie ein anderer und erntete damit begeisterte Zustimmung.
Dann ertönte der Ruf, den die Demonstranten mittlerweile verinnerlicht hatten: »Fi-ni-to! Fi-ni-to!«
Erik hörte, dass ein Auto hinters Baubüro fuhr, und stieß Sören an. »Sorgen Sie dafür, dass Corinna Matteuer unversehrt ins Haus kommt.«
Bald darauf stand sie neben ihm, erhitzt, mit roten Wangen und ängstlichem Blick. »Schick die Leute weg! Und auch die Reporterin, die da draußen rumlungert!«
Sie war auf ihren hohen Absätzen hereingestolpert, als wäre sie auf der Flucht. Ihre hochgesteckten Haare waren in Unordnung geraten, eine Strähne fiel über ihr rechtes Auge, ihr Lippenstift war leicht verschmiert. So hatte Erik sie, die immer auf ein perfektes Äußeres bedacht war, noch nie gesehen. Der Tod ihres Mitarbeiters schien ihr sehr nahe zu gehen. Oder war es vor allem die Häufung der schrecklichen Ereignisse, die an ihr zehrte? Erst der Tod der Schwester, dann der Mord an Dennis Happe, dazu die Beschimpfungen der Sylter Bürger – das war anscheinend zu viel für Corinna Matteuer. Sie lehnte sich Hilfe suchend an Eriks Brust, als er ihr die Hand reichen wollte. Aber sie ergriff sie nicht, sondern umarmte ihn. »Was ist mit Dennis passiert?«, fragte sie, warf dem Toten einen Blick zu, wandte sich aber gleich wieder schaudernd ab.
Erik schob sie sanft von sich weg, nahm ihren Arm und führte sie aus dem Büro hinaus in den Zwischenraum, der hinter der Eingangstür lag. Da er dort sowohl auf seine Schwiegermutter als auch auf Wiebke Reimers traf, öffnete er die nächste Tür und schob Corinna in den zweiten Büroraum, noch ehe sie gegen die Anwesenheit der Reporterin protestieren konnte. Als er die Tür hinter sich schloss, wurde aus Corinna Matteuers Betroffenheit Schwäche. Er merkte, dass sie Wiebke Reimers gern aus dem Baubüro verbannt hätte, aber sie brachte die Kraft nicht auf. Die Stille tat ihr gut, die Rufe von draußen waren nur noch gedämpft zu hören.
Dieser Raum war das technische Büro. Zeichenbretter standen herum, lange Tische mit ausgebreiteten Plänen gab es hier, große Kopiergeräte und aufgerollte Zeichnungen, die in einer Ecke lehnten.
Corinna nahm Platz, und Erik sah, dass ihre Beine zitterten. Er zog einen zweiten Stuhl heran, setzte sich ihr gegenüber und ließ ihr Zeit, sich zu beruhigen. Nervös strich sie den Saum ihres knielangen Rockes glatt, die Laufmasche, die darunter hervorkroch, bemerkte sie nicht. Zum Glück, dachte Erik. Er erinnerte sich daran, dass vor zwanzig Jahren eine geplante Unternehmung platzen konnte, wenn Corinna eine Laufmasche entdeckte und keine Ersatzstrumpfhose bei sich trug. Beinahe hätte er in der Erinnerung gelächelt.
»Es sieht so aus«, begann er behutsam, »als hätte Dennis Happe jemanden dabei überrascht, wie er den Schreibtisch deiner Schwester durchsuchte. Kannst du dir das erklären?«
Corinna schüttelte den Kopf. »Nein, aber mich wundert nichts mehr. Matilda hatte Geheimnisse vor mir.« Sie schluchzte auf und hatte Mühe zu ergänzen: »Das hätte ich nie für möglich gehalten. Ihre Beziehung zu diesem Ludo Thöneßen … Dass sie fähig ist, einen Mord zu begehen … Dass sie so unglücklich war, den Freitod zu wählen … Von all dem habe ich nichts bemerkt.« Sie schlug die Hände vors Gesicht, ihre Schultern bebten, ihre Stimme war so leise, dass Erik sie kaum verstehen konnte: »Dabei habe ich immer gedacht, wir sind eins.«
Erik nickte. In seiner Erinnerung waren die Zwillinge tatsächlich eins gewesen. Eine war ohne die andere nicht denkbar. Wer eine sah, hielt sofort nach der anderen Ausschau, weil er wusste, dass sie nicht weit sein konnte.
Nun wischte Corinna sich die Augen trocken und sah Erik an. Er starrte auf die verschmierte Wimperntusche und wunderte sich, dass sie keinen Spiegel hervorkramte, um ihr Äußeres zu kontrollieren, wie sie es früher getan hatte, wenn der Wind ihr am Strand den Sand ins Gesicht gepustet und sie sich die Augen gerieben hatte. Aber er begriff schnell, dass Corinna sich
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