Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
in einem Ausnahmezustand befand. Vielleicht schon seit Jahren! Was wusste er von ihrer Ehe? Von ihrem Mann, der anscheinend nur Erfolg und Profit im Sinn gehabt hatte? Womöglich hatte sie das schon lange überfordert. Aber sie hatte weitergemacht, ein Bauvorhaben nach dem anderen, und seit ihr Mann ein Pflegefall war, erst recht. Stark sein und alles schaffen! Ja, das passte zu der Corinna, an die er sich erinnerte. Aber nun schien sie mit ihrer Kraft am Ende zu sein.
Ihre Augen irrten durch den Raum, als suchte sie etwas. »Wenn sie noch mehr Geheimnisse vor mir hatte … Vielleicht hat sie in ihrem Schreibtisch etwas versteckt, was ich nicht sehen sollte. Im Apartment war es ihr womöglich nicht sicher genug. Es kam schon mal vor, dass ich mir ein Buch aus ihrem Zimmer geholt habe oder in ihren Schubladen nach Nasenspray oder Kopfschmerztabletten gesucht habe. Eigentlich hatten wir ja keine Geheimnisse voreinander, dachte ich …«
»Hast du eine Ahnung, was das gewesen sein könnte, was sie vor dir verstecken wollte?«
Corinna schüttelte den Kopf und schwieg.
»Etwas so Wichtiges, dass derjenige, der es haben wollte, dafür einen Mord beging?«
Wieder schüttelte sie den Kopf und schluchzte leise.
Erik stand auf und ging herum. »Ich nehme an, Dennis hielt sich in diesem Raum auf. Er war allein, du warst ja schon nach Hause gefahren …«
»Wegen der Demo«, warf Corinna leise ein. »Ich wollte nicht auf diese Leute treffen.«
»Er hat also gearbeitet, dann hörte er ein Geräusch. Splitterndes Glas!« Erik runzelte die Stirn. »Der Mörder musste durchs Fenster einsteigen, die Eingangstür war abgeschlossen.«
»Ich habe sie selbst hinter mir abgeschlossen, als ich ging. Dennis war allein, und wer kann schon sagen, wozu diese Demonstranten fähig sind!« Sie sah Erik sorgenvoll an. »Muss ich Angst haben, dass es mir so geht wie Dennis? Wenn der Mörder hier nichts gefunden hat, wird er vielleicht im Apartment nachsehen.«
Erik setzte sich wieder zu ihr und nahm ihre Hände. »Dein Apartment liegt im zwölften Stock, und die Haustür ist immer verschlossen. Du musst dir keine Sorgen machen. Außerdem hat er vielleicht gefunden, was er suchte.« Er betrachtete eine Weile Corinnas Gesicht, die feinen Falten in ihren Augenwinkeln, die Linien, die ihre Nasenflügel mit den Mundwinkeln verbanden. Himmel, wie weit lag die Zeit ihrer Jugend zurück! »Was mag es gewesen sein, Corinna? Denk nach!«
Sie schüttelte seine Hand ab. »Ich weiß es nicht! Ich weiß nur, dass ich Angst habe.«
Er las die Bitte in ihren Augen und schüttelte verlegen den Kopf. »Es geht nicht, Corinna. Die Kinder machen Ärger. Sie haben kein Verständnis dafür, dass wir dich in unserem Hause beherbergen. Du musst das verstehen. Sie kämpfen gegen dich, da kannst du nicht erwarten, dass sie sich zu dir an den Tisch setzen.«
»Aber vielleicht kannst du bei mir übernachten? Matildas Zimmer steht leer. Du könntest auf dem Sofa schlafen! Ich würde mich dann sicherer fühlen.«
Erik erschrak regelrecht. »Unmöglich, Corinna! Wie soll ich das meiner Familie erklären?« Er hatte das Bedürfnis, den Abstand zwischen sich und Corinna zu vergrößern, und stand auf. »Gibt es niemanden, der nach Sylt kommen könnte, damit du nicht allein bist?«
Sie schüttelte den Kopf. »So gute Freunde habe ich nicht. Und Verwandte gibt es nicht mehr. Matilda war ja alles für mich, beste Freundin und Familie.«
Erik ging zum Fenster und kehrte Corinna den Rücken zu. Er musste dieses Gespräch beenden. Obwohl er befürchtete, dass er Corinna damit verletzte, wechselte er das Thema. »Die Angehörigen von Dennis Happe müssen verständigt werden. Kannst du mir die Telefonnummern geben?«
Corinna antwortete nicht. Als er sich umdrehte, saß sie noch immer auf dem Stuhl und starrte ihn aus großen Augen an. »Du warst doch mal verliebt in mich.«
»Das ist lange her, Corinna.«
»Jetzt bist du es nicht mehr?«
»Wir haben uns verändert in der langen Zeit. Beide! Ich habe in der Zwischenzeit die wahre Liebe kennengelernt. Meine Frau! Damals habe ich für dich geschwärmt und war auch verliebt … Aber ob es die große Liebe geworden wäre …«
»Damals war ich zu hochmütig«, sagte Corinna leise. »Meinen Kurschatten habe ich dich genannt. Heute glaube ich, dass du der Richtige gewesen wärst.«
M amma Carlotta war dabei, den Teig für die Omeletts zuzubereiten. Dennis Happes Tod ging ihr sehr nahe, aber zum Glück gelang ihr das Kochen
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