Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
schüttelte den Kopf und konnte sich plötzlich selbst nicht mehr verstehen. Wie sollte sie ihre Anwesenheit erklären, wenn gleich jemand empört in seinen Garten lief und sie fragte, was sie hier zu suchen hatte? Ihm erzählen, sie verfolge eine Frau, die ihrem Schwiegersohn nachstellte? Der sie unbedingt was ans Zeug flicken wollte, damit er von ihr abließ? Jeder würde sie für verrückt erklären. Und wie Erik reagieren würde, wenn ihm das zu Ohren käme … das mochte sie sich gar nicht vorstellen.
Sie flüsterte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel und flehte den Schutzheiligen ihres Dorfes an, dafür zu sorgen, dass sie ohne Blessuren heimkehren durfte. Dann wollte sie sich über den Weg zurückziehen, an dessen Ende sie hoffentlich niemand fragen würde, was sie dort zu suchen hatte … Doch in diesem Moment stach wieder die Sonne durch die Wolken. Ein winziges Blinzeln nur, ein kurzes Flimmern, das etwas in Mamma Carlottas Blickfeld aufblitzen ließ. Glas vor der nächsten Terrassentür! Glassplitter! Und plötzlich wusste sie, wie das Knirschen, das sie gehört hatte, zu erklären war. Jemand war auf Glasscherben getreten! Jemand, der vorher ein Fenster eingeschlagen hatte? Oder eine Glastür? Dann konnte dieser Jemand nur Corinna Matteuer sein.
Nun hielt Mamma Carlotta nichts mehr. Wenn Corinna Matteuer dieses Risiko einging, wusste sie vermutlich, dass in dem Haus niemand wohnte. Also konnte auch Carlotta es wagen, am nächsten Wohnzimmerfenster vorbeizuhuschen. Vorsichtshalber spähte sie erst um die Hausecke, stellte aber fest, dass es im nächsten Wohnraum genauso aussah wie in dem des anderen Hauses. Leer, aufgeräumt, frisch geputzt und unbewohnt!
Dieses Haus bestand anscheinend aus mehreren kleinen Wohneinheiten. Es war nicht nur in Erdgeschoss und erste Etage aufgeteilt, auch die beiden Etagen waren jeweils noch unterteilt worden. Das erkannte sie an der dünnen Trennwand, die die Terrasse und auch den Balkon in der ersten Etage teilte. Vorsichtig schlich sie darauf zu. Konnte sie es wagen, um die Trennwand herumzublicken? Was, wenn sie direkt in Corinna Matteuers Gesicht sah, die gerade in diesem Moment aufblickte? Die vielleicht ihre Schritte gehört hatte und nur darauf wartete, dass jemand erschien, den sie natürlich niederstrecken, erschlagen, erwürgen, erdrosseln musste, um selbst nicht überführt zu werden.
Diese Vorstellung war entsetzlich, aber für Mamma Carlotta kam es trotzdem nicht mehr infrage, den Rückzug anzutreten. Sie sah die Glassplitter, die die ganze Terrasse übersäten, und wusste, sie würde die Neugier nicht ertragen. Noch weniger die spätere Reue, wenn sie es nicht gewagt hatte, Corinna Matteuers Plänen auf den Grund zu gehen. Am Ende tat sie es für Erik, redete sie sich ein. Sie wollte nur sein Bestes! Und das Beste für die Kinder! Ja, nun hatte sie es richtig gemacht! Sie hatte sich selbst davon überzeugt, dass sie etwas Gutes im Sinn hatte, wenn sie ihrer Neugier nachgab.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und blickte um die Trennwand herum. Aber zum Glück war auch das nächste Wohnzimmer menschenleer. Doch dort wohnte jemand, das erkannte sie auf den ersten Blick. Über einem Sessel hing ein Herrenjackett, Schuhe standen unter dem Wohnzimmertisch, darauf eine Kaffeetasse, daneben lag eine zusammengefaltete Zeitung. Im hinteren Bereich gab es eine Küchenzeile, Herd, Kühlschrank, Spüle und ein paar Oberschränke. In der Kaffeemaschine stand eine halb gefüllte Kanne, daneben ein Zuckertöpfchen und eine gefüllte Plastiktüte mit der Aufschrift von Feinkost Meyer.
Die Terrassentür war in der Höhe der Klinke eingeschlagen worden. Man musste nur durch das Loch greifen, die Klinke betätigen, und schon hatte man freien Zugang. Dass Corinna Matteuer die Einbrecherin gewesen war, daran hatte Mamma Carlotta keinen Zweifel.
Aber wo war sie? Im Wohnzimmer regte sich nichts. Die Tür, die aus dem Zimmer führte, stand offen, aber nicht so weit, dass Mamma Carlotta erkennen konnte, was sich dahinter tat. Sie lauschte angestrengt, doch nichts war zu hören. Hatte Corinna Matteuer die Wohnung womöglich längst durch die Eingangstür wieder verlassen? Dieser Gedanke belebte Mamma Carlotta. Sie wurde mutiger. Mit großen Schritten, um so wenig wie möglich mit den Glasscherben in Berührung zu kommen, überquerte sie die Terrasse. Schwer atmend blieb sie stehen, drückte sich mit dem Rücken an die Hauswand und wartete. War sie gesehen worden? Nein, nichts regte
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