Kurt Ostbahn - Schneeblind
tun, was in Wahrheit ihr ganzes Leben bestimmt. Zu vielen Gästen hab ich eine dauerhafte Beziehung aufgebaut, obwohl wir einander im wirklichen Leben nie begegnet sind und auch nie begegnen werden«, sagt Nora und erzählt von einem älteren Herren, der sich ihr vor einem Jahr als »Schüler Gerber« vorgestellt hat, mit der dringenden Bitte, in ihrem Erziehungsinstitut Aufnahme zu finden. Seither schickt er jede Woche, immer freitags pünktlich um 15 Uhr, einen Deutschaufsatz auf höchstem Niveau, jedoch gespickt mit Beistrich- und Rechtschreibfehlern. Noras Rolle in ihrem Spiel ist die der gestrengen Lehrerin, die die Arbeit ihres Schülers korrigiert, benotet und an ihn zurücksendet, mit dem Vermerk, daß jeder falsch gesetzte Beistrich einen Hieb mit dem Holzlineal bedeutet und jeder Rechtschreibfehler eine Klammer mehr an seinen ganz besonders empfindlichen Teilen. Mit ihrem »Schüler Gerber« korrespondiert Nora inzwischen aber nicht nur über schuldisziplinäre Angelegenheiten; man plaudert auch über das Beschneiden seiner Obstbäume, ihre langwierige Seitenstrangangina oder über das Frauenbild in den Werken des Arthur Schnitzler, denn der ältere Herr ist Literaturwissenschaftler und ein Kapazunder für österreichische Dichtung der Jahrhundertwende.
Nora bestellt einen Kaffee. Leicht. Denn sie will am Vormittag, wenn Gerda ihren Besuch, den kleinen Neffen Simon, in die Schule gebracht hat, ein, zwei Stunden schlafen.
Und schon bin ich auf den Beinen und auf dem Weg in die Küche.
Diesmal bleibt mir Nora auf den Fersen.
»Codenamen, Schimpfnamen, Künstlernamen. Aus Mann wird Frau, und umgekehrt. Alles ist möglich. Showtime«, setzt sie meine Einschulung vor der Kaffeemaschine fort. »Wenn die Kinder im Bett sind und die Gattin vorm Fernseher eintunkt, sprießen dem Papa am PC die Flügerln der erotischen Phantasie. Dann mag er gern Sklave sein, der von seiner Herrin gefesselt, ausgepeitscht und angepinkelt wird. Eine lohnende, entspannende Abendunterhaltung, find ich, wenn man im Preisvergleich einen Kinobesuch mit Abendessen hernimmt. Sauteuer. Dazu noch der Babysitter. Und vorm Schlafengehen wichst er ohnehin allein am Klo und malt sich Dinge aus, die der auf ewig Angetrauten nicht zumutbar sind. Das is das Klischee. Und das bestätigt sich tagtäglich aufs neue. Aber ich hab auch eine ganze Menge Paare, gleich- und gegengeschlechtliche, mit denen ich jede Menge Spaß haben und phantastische Abenteuer erleben kann.
Was ich eigentlich sagen wollte, und damit ist die Einschulung vorüber, Herr Ostbahn, und wir gehen in medias res: Bei dem Faxschreiber liegen die Dinge ein bißl anders. Er war im Erziehungsinstitut mein erster Dauergast. Ein schwerer Fall, von Anfang an. Und für mich damals das ideale Trainingsobjekt: Wie reagiert der Sub auf meine Anweisungen und Befehle, wenn er sie als E-Mail in seinem PC findet und nicht live aus dem Munde seiner Domina zu hören kriegt? Ergebnis: Er entwickelt viel mehr Phantasie, schafft sich Traumwelten, in denen alles erlaubt und machbar ist, und über die man sich per E-Mail herrlich austauschen kann.«
Aber letzten Sommer, Ende August, ist Madame der Spaß am Spiel vergangen. Da hat er per Elektropost seine Halbschwester Michaela auftreten lassen.
»Das war an dem furchtbar heißen Wochenende vor Schulbeginn«, erinnert sich Nora. »Mein kleiner Neffe, der Simon, war zu Besuch, wie heute. Genau. Als ich ihn ins Bett gebracht hab, hatte er vor lauter Aufregung 39 Grad Fieber. Ich weiß noch; ich bin — mit einem Ohr im Schlafzimmer — am Computer gesessen, als mir der Faxschreiber sich selbst als seine Stiefschwester vorgeführt hat. Er schickte mir immer Fotos, die er mit Selbstauslöser geschossen hat. Wahrlich keine Meisterwerke. Und auf diesen Bildern trug er das erste Mal eine blonde Langhaarperücke und weiße Damenunterwäsche. Männer mit Lidstrich und in Strapsen bringen mein Weltbild schon lang nicht mehr durcheinander. Eher im Gegenteil. Aber er als erziehungsbedürftige Göre? Das war keine neue Variante in unserem Spiel. Ich hatte vom ersten Moment an ein ungutes Gefühl. Und mein diesbezügliches Sensorium hat mich noch nie getäuscht.«
Der Kaffee ist fertig.
»Milch? Zucker?« frage ich.
»Schwarz«, sagt Nora. »Ein Stück Zucker. Und haben Sie was zum Knabbern im Haus?«
Ich überlege.
Mir fallen nur Noras Ohrläppchen ein.
13
GESCHWISTERLIEBE.
Der Mann heißt Kreuzschinder.
Hannes oder Michaela.
Je nachdem.
Hannes ist der
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