Kurt Ostbahn - Schneeblind
jüngere und stets um Sauberkeit und Ordnung bemüht. Seine Stiefschwester Michaela ist durch und durch verdorben, eine ordinäre Schlampe, die es mit jedem treibt, der ihr übern Weg läuft. Wenn sie auf ihren nächtlichen Streifzügen durch die Stadt keinen Mann findet, der es ihr besorgt, dann bedient sie sich auf höchst widerwärtige Art und Weise an ihrem Bruder, der ihrem sündigen, abartigen Treiben hilflos ausgeliefert ist, weil er von Michaela stets im Schlaf überrascht, mit ihrem feuchten Höschen geknebelt und ans Bett gefesselt wird.
Kreuzschinder heißt nicht wirklich Kreuzschinder. Das ist sein Pseudonym, unter dem er bei Madame Nora vorstellig wurde, unterwürfig und von der Idee beseelt, durch ihre strenge Kunst zu einem wertvollen, gottesfürchtigen Mitglied unserer Gesellschaft zu werden. In seinem Bewerbungsschreiben war, erinnert sich Nora, das Szenario ihres zukünftigen Rollenspiels bereits genau festgelegt:
Madame Nora gibt die Leiterin eines privaten »Erziehungsinstitutes«, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, jungen Menschen mit disziplinären Problemen durch körperliche Züchtigung den Weg hinaus ins Leben zu erleichtern. Und Kreuzschinder gibt den besonders schwierigen Fall, dessen Erziehung von der Institutsleiterin persönlich übernommen wird, weil alle Erziehungsberechtigten bisher an ihm gescheitert sind. Madame Nora genießt den Ruf, absolut unerbittlich zu sein, keine Milde walten zu lassen und Methoden in Anwendung zu bringen, die zwar drastisch, aber dafür auch höchst effektiv zu sein scheinen, was die vielen Dankesschreiben von geläuterten Eleven beweisen, die durch ihre harte Schule gegangen sind.
Kreuzschinder legt Madame Nora regelmäßig seine »Disziplinar-Protokolle« vor, in denen er penibel und nach Datum und Uhrzeit geordnet jede kleine Verfehlung und Unachtsamkeit, jeden schmutzigen Gedanken und alle seine Sünden auflistet. Madame Nora antwortet mit einem gestrengen Kommentar und einer drakonischen Strafverfügung.
Nach etwa einem halben Jahr unter Noras Knute entwickelt Kreuzschinder zunehmend Eigeninitiative, indem er seine Erzieherin mit »Fleißaufgaben« überrascht: Bilder, auf denen er sich mit grobem Schmirgelpapier, einer Lockenschere oder einer selbstgebastelten Dornenrute malträtiert.
In Noras Elektropostkasten landen unzählige amateurhafte Aufnahmen seiner zunehmend brutalen und blutigen Selbstdisziplinierungen; immer häufiger finden diese vor einem Kruzifix statt, und auf keinem einzigen Bild ist Kreuzschinders Gesicht genau zu sehen.
Was Nora auf den Folterfotos erkannt haben will: Der Mann ist zwischen 30 und 40, auch wenn der antiquierte, verzopfte Stil seiner Briefe auf einen viel älteren Mann hinweisen würde. Aber Kreuzschinders schwülstige Schreibe, vermutet Nora, hat mit dem Szenario zu tun, in dem sich seine Phantasien abspielen, und das stammt aus dem späten 19. Jahrhundert. Viktorianisches England. Prüderie und Prügelstrafe. Der Flagellantismus war damals in Mode und Thema verschmockter Wälzer, in denen im Dienste von Anstand, Sitte und Moral mit Begeisterung ausgepeitscht, mit dem Rohrstock gezüchtigt oder zumindest übers Knie gelegt wurde.
Was Nora noch weiß: Kreuzschinder ist groß, hager, blond.
Ob die Haarfarbe echt ist, darüber kann sie keine Auskunft geben, weil er vor seinen Besuchen in ihrem virtuellen Institut seine Körperbehaarung fein säuberlich abrasiert hat.
Letzten Sommer, kurze Zeit, bevor Michaela ins Spiel kam, tritt Kreuzschinder mit einer dringenden und für ihn völlig ungewöhnlichen Bitte an seine Erziehungsbeauftragte: Er ersucht untertänigst um postalische Zusendung eines Schlüpfers, den Nora bei der Abstrafung einer ihrer weiblichen Zöglinge getragen hat. Als Adresse gibt er ein Postfach auf dem Südbahnhof an, und verspricht, sich für die Zuverfügungstellung des getragenen Wäschestücks bei seiner nächsten Überweisung erkenntlich zu zeigen.
Nora weist sein kühnes Ansinnen empört zurück und teilt Kreuzschinder mit, daß sie bei der Züchtigung weiblicher Delinquenten prinzipiell keine Schlüpfer trägt. Für sein skandalöses und unentschuldbares Benehmen wird er mit einer langen Liste schwerster Sanktionen bestraft. Der Eleve reagiert mit einem vergleichweise kurzen und kühlen Entschuldigungsschreiben, in dem er verspricht, die verordneten Erziehungsmaßnahmen an sich vorzunehmen, sobald es seine knappe Zeit erlaubt.
Dann ein paar Wochen Pause. Keine
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