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Kurt Ostbahn - Schneeblind

Kurt Ostbahn - Schneeblind

Titel: Kurt Ostbahn - Schneeblind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guenter Broedl
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vielleicht hat der rissige, löchrige Betonbelag des Kicker-Käfigs die Ballreflexe so manches späteren Dribbelkönigs geweckt und gefordert. Aber ansonsten gibt der Henriettenplatz nicht viel her. Vor allem nicht bei Minusgraden, die dir Arsch und Eier abfrieren.
    Außer eventuell die gern verschwiegene Tatsache, daß der Trainer in dem monströsen grauen Wissenstempel, der die gesamte Nordseite des Platzes dominiert, im »Abendgymnasium für Berufstätige« vor zirka 23 Jahren mit Bravour die Matura bestanden hätte, wenn er nicht während der Prüfungsvorbereitungen plötzlich und unheilbar am Rock’n’Roll-Virus erkrankt wäre, was den sofortigen radikalen Bruch mit seinem humanistischen Bildungsweg zur Folge hatte, und den Trainer alsdann vom Pfad der Tugend und soliden Lebensart in den Sumpf von lauter, elektrisch verstärkter Musik, Schmutz und Schund in Wort und Bild, sowie einer langen Reihe schlamperter bis unüberschaubarer Verhältnisse geführt hat.
    Muy complicado nennt er diesen seinen Lebensentwurf heute, seit er jedes Jahr die Stätten seiner Kindheit und Adoleszenz für mindestens sechs Monate verläßt, um auf Teneriffa, unter dem imposanten Vulkan Teide, seinen Seelenfrieden zu suchen. Mit wechselndem Erfolg, würde ich sagen.
    Apropos.
    Gleich nach dem Telefonat mit dem maroden Doc hab ich den Trainer angerufen, um Wissenswertes über Nora zu erfahren. Er klang entspannt und heiter und wollte sich für seine »leicht überzogene Reaktion« heute nachmittag beim Quell entschuldigen, »aber bei mir liegen momentan die Nerven blank. Nicht immer. Aber immer öfter.«
    Der Trainer lachte. Ich kenn die Fernsehwerbung. Also lachte ich auch.
    »Und diese Nora?« pirschte ich mich hurtig an das eigentliche Thema meines Anrufs. »Eine alte Flamme? Eine neue Bekannte?«
    »Beides«, sagte der Trainer.
    »Verstehe«, sagte ich.
    »Aber ich seh den Zusammenhang nicht, Kurtl. Was hat die Nora mit den Faxen und mit meinem unsichtbaren Verehrer zu tun? Nix. Absolut nix.«
    »Vielleicht gelten die unsichtbare Verehrung und die blutigen Botschaften gar nicht dir, Trainer, sondern deiner Nora?«
    »Sie ist nicht meine Nora«, plankte der Trainer ab. »Aber über diese These sollte man einmal gründlich nachdenken.«
    »Nur eventuell nicht zu lang, Trainer! Denn die Zeit drängt, sagt der Doc. Also: Was is los mit dieser Nora?«
    »Sie is ein völlig neuer Mensch«, berichtete der Trainer alsdann ziemlich aus jedem Zusammenhang. »Ich hätt sie am Flughafen in Teneriffa nicht wiedererkannt. Steht direkt vor mir am Aero-Lloyd-Schalter. Check-in nach Wien. Wenn sie mich nicht angesprochen hätte, nachdem die vier Stunden Verspätung durchgesagt wurden, wär ich nie auf die Idee gekommen, daß sie mit 16 meine ganz große Liebe gewesen ist. Also, ich war damals in sie verliebt. Wie so ziemlich jeder in der Oberstufe. Aber sie wollte, daß wir nur gute Freunde bleiben. Was im Klartext heißt: keine Chance. Null Interesse. Laß mich im Kraut. Nur weiß man die Zeichen mit sechzehn noch nicht so zu deuten.«
    Die zirka hundert experimentellen Gedichte, die der Trainer für sie geschrieben und ihr immer in der Zehn-Uhr-Pause vorbeigebracht hat, konnten nix an ihrer freundlich-kameradschaftlichen Haltung ändern. Sie hat seine Gedichte zwar gelesen und sich komplizierte Gedanken darüber gemacht, ist aber nie auf die Idee gekommen, daß die Werke in Wahrheit bis zur Unkenntlichkeit verschlüsselte Liebeserklärungen waren. Oder sie hat es ganz genau gewußt, und wollte sich einfach ersparen, ihn mit einer klaren und deutlichen Absage in die Wüste zu schicken.
    »Jedenfalls haben die Nora und ich damals nie ein Wort über uns geredet, aber viel über Paul Celan und Allen Ginsberg«, erzählte der Trainer. »Mich hat jedes unserer Literaturgespräche zu einem Dutzend neuer codierter Anträge inspiriert, die ich vorm Einschlafen mit Miles Davis, Santana oder Elmore James im Kopfhörer in ein Quartheft mit Korrekturrand geschrieben und am nächsten Tag dann in die Kofferschreibmaschine meiner Eltern geklopft hab. Damals hab ich meinen ersten Blues-Text geschrieben. Zur Musik von »The Sky is Cryin’« von Elmore James. »Rotz und Wossa«. Das war lang vor unserer Zeit, Kurtl.«
    »Hochinteressant«, sagte ich, weil mich tragische Liebesgeschichten in meinem Alter viel mehr anrühren als Geschichten über Mord und Totschlag.
    Zirka eine halbe Telefonstunde später wußte ich alles über den jungen Herrn Trainer und seine

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