Kurz vor Mitternacht
einem Mord zu tun. Das ist verkehrt. Der Mord beginnt viel früher. Ein Mord ist der Höhepunkt von vielen verschiedenen Einzelsträngen, die in einem bestimmten Augenblick an einem Punkt zusammentreffen, und Menschen, die vorher nichts oder wenig miteinander zu tun hatten, finden sich plötzlich darin verwickelt. Royde kommt aus Indonesien. Mr MacWhirter ist hier, weil er einen Ort besuchen wollte, an dem er einst einen Selbstmordversuch unternommen hat. Der Mord selber ist das Ende einer Geschichte. Er ist der Schlusspunkt.»
Battle machte eine Pause.
Dann sagte er: «Jetzt sind wir beim Schlusspunkt angelangt.»
Fünf Gesichter waren ihm zugewandt – fünf nur, denn MacWhirter, der allen den Rücken zukehrte, rührte sich nicht. Fünf verwirrte Gesichter.
Mary fragte: «Sie meinen, dass Lady Tressilians Tod der Höhepunkt einer langen Kette von Ereignissen war?»
«Nein, Miss Aldin, nicht Lady Tressilians Tod. Lady Tressilians Tod diente dem Mörder nur als Mittel zum Zweck. Der Mord, von dem ich spreche, ist der Mord an Audrey Strange.»
Er lauschte auf ein scharfes Einziehen des Atems. Er fragte sich, ob es jemand mit der Angst zu tun bekam…
«Dieses Verbrechen wurde vor langer Zeit geplant, und zwar bis in die kleinste Einzelheit. Es diente nur dem einen Ziel, Audrey Strange an den Galgen zu bringen…
Es wurde von einem Menschen geplant, der sich für sehr gescheit und geschickt hielt. In der Regel sind Mörder eitel. Zuerst gab es all das unbefriedigende Beweismaterial gegen Nevile Strange, das wir durchschauen sollten. Aber da es sich um lauter falsche Indizien handelte, war der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, dass auch die neuerlichen Indizien gefälscht waren. Tatsächlich könnten die Indizien, die gegen Audrey Strange vorlagen, ebenfalls gefälscht sein. Das Mordinstrument, das von ihrem Kamin stammte, ihre Handschuhe – der linke blutbefleckt –, die in dem Efeu vor ihrem Fenster versteckt waren; der Puder, den sie zu benutzen pflegt, ihre Haare auf dem blauen Rock; ihr Fingerabdruck, der ganz leicht auf einem Stück Heftpflaster vorhanden sein könnte, das man aus ihrem Zimmer entwendete. Sogar der linkshändige Schlag. Ja, aber dann haben wir da Audrey Stranges Verhalten, als sie verhaftet wurde. Wer könnte danach noch an ihrer Schuld zweifeln? Ich selber hätte wahrscheinlich kaum daran gezweifelt, wenn ich nicht vor einiger Zeit etwas ganz Ähnliches in meinem Privatleben erfahren hätte… Wie ein Schlag zwischen die Augen war es für mich, als ich sie sah und hörte, weil ich… ja, Sie müssen wissen, dass ich ein Mädchen kenne, das sich ganz genauso verhielt, das eine Schuld zugab, obwohl es ganz und gar unschuldig war… und Audrey Strange sah mich mit dem Blick dieses Mädchens an…
Ich musste meine Pflicht tun. Das wusste ich. Wir Polizeibeamte haben uns nach dem Augenschein zu richten, nicht nach unseren Gefühlen und Überlegungen. Aber ich kann Ihnen sagen, dass ich in jeder Minute um ein Wunder betete, weil ich erkannte, dass nur ein Wunder der armen Frau helfen konnte.
Und das Wunder kam! Kam im richtigen Augenblick! Mr MacWhirter erschien und machte seine Aussage.»
Battle änderte den Ton: «Mr MacWhirter, wollen Sie so freundlich sein und wiederholen, was Sie mir berichtet haben?»
MacWhirter drehte sich um. Er sprach in kurzen Sätzen, die in ihrer Schärfe durchaus überzeugend wirkten. Er begann mit seinem Selbstmordversuch, seiner Rettung und seiner Rückkehr zum Schauplatz des Geschehens.
Dann fuhr er fort: «Montagabend begab ich mich dorthin. Ich stand in Gedanken versunken auf der Klippe. Es mag ungefähr gegen elf Uhr gewesen sein. Ich blickte zu dem Haus hinüber – ‹Möwennest› heißt es, wie ich inzwischen erfahren habe. Aus einem Fenster dieses Hauses hing ein Seil ins Wasser hinunter. Ich sah einen Mann an dem Seil hinaufklettern…»
Nur eine Sekunde verstrich, bis die Anwesenden die Bedeutung der Worte erfasst hatten.
Mary rief: «Dann war es also doch ein Außenstehender! Ein gewöhnlicher Einbrecher! Mit uns hat die Sache nichts zu tun!»
«Langsam, langsam», beschwichtigte Battle. «Es war jemand, der vom andern Flussufer kam, ja, da der Betreffende den Fluss schwimmend durchquerte. Aber jemand im Haus musste das Seil für ihn vorbereitet haben, deshalb ist trotzdem ein Mitbewohner in Betracht zu ziehen.» Langsam fuhr er fort: «Und wir wissen von einem Menschen, der sich an jenem Abend auf dem andern Flussufer befand – jemand,
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