Kurzschluss
»Elektrizität entsteht, das haben wir in der Schule gelernt, wenn sich eine Spule mit ihrem Eisenkern in einem Magnetfeld dreht«, dozierte er weiter. »Dazu muss man aber wissen, dass sich diese Spulen – oder sagen wir besser: Turbinen – umso schwerer in ihrem Magnetfeld bewegen lassen, je größer die Menge an Elektrizität ist, die im anschließenden Netz gebraucht wird. Das heißt, mit jeder Glühbirne, mit jedem Gerät, das eingeschaltet wird, muss mehr Energie in Form von Öl, Kohle, Gas oder Kernkraft hinzugeführt werden, um die Turbine trotz des größeren Widerstands gleichmäßig betreiben zu können. Am augenscheinlichsten wird dies im Auto. Je mehr elektrische Verbraucher Sie einschalten, also Scheinwerfer, Scheibenwischer, Radio, Heckscheibenheizung, Sitzheizung und so weiter, desto mehr Sprit verbraucht Ihr Fahrzeug. Denn zum Betrieb der Lichtmaschine, für deren Umdrehungen im stärker werdenden Magnetfeld dann mehr Kraft aufgewandt werden muss, bedarf es zusätzlicher Energie.«
Häberle nickte, wollte aber wieder auf das Stromnetz zu sprechen kommen. »Und um Verbrauchsschwankungen europaweit ausgleichen zu können«, gab er sich informiert, »muss das gesamte Netz im Gleichgewicht bleiben.«
»So ist es«, erwiderte Bodling, »sobald irgendwo ein Kraftwerk in die Knie geht, weil der angeforderte Verbrauch nicht befriedigt wird, kann dies auf weite Teile Europas verheerende Auswirkungen haben. Mit einem Schlag müssen anderswo die Anlagen hochgefahren werden; und wenn das nicht ausreicht, bricht das Netz zusammen. Ein Dominoeffekt.«
Häberle nahm still zur Kenntnis, dass er nicht von einer Kettenreaktion gesprochen hatte. Denn dieses Wort war im Zusammenhang mit Energiewirtschaft und Kernkraftwerken negativ besetzt.
»Und wie sind in diesem Netzwerk die alternativen Energien zu sehen?«, wollte der Ermittler wissen.
»Wenn Sie Fluss- oder Pumpspeicherkraftwerke meinen, da wird rings um uns herum kräftig Strom produziert, wenn man von jahreszeitlichen Schwankungen absieht. Auch wir bedienen uns eines solchen Angebots – in Norwegen.«
»In Norwegen«, echote Häberle.
»Ja, wir haben uns Bezugsrechte gekauft«, erklärte Bodling mit gewissem Stolz in der Stimme. »Die speisen ihren Strom im Norden ins Netz und wir im Süden holen uns exakt die bestellte Menge heraus.«
»Und wer prüft, dass da nicht mehr Bezugsrechte verkauft werden, als Wasserkraftstrom zur Verfügung steht?«
»Eine unabhängige Agentur. Keine Sorge, Herr Häberle, das ist nachvollziehbar.«
»Aber die Durchleitung durch die fremden Netze kostet Geld«, wandte Häberle ein.
»So ist es«, nickte der Firmenchef, »ist aber von der Netzagentur geregelt.«
Häberle wollte nicht noch tiefer in diese Materie einsteigen. Nur eines interessierte ihn sehr: »Und wie verhält es sich mit der Wind- und Sonnenenergie?«
Bodling runzelte die Stirn. »Sie brauchen nur mal auf die Hochfläche der Schwäbischen Alb zu sehen, wie viele Windkrafträder wir inzwischen haben. 50 an der Zahl. Wir als Versorgungsunternehmen sind verpflichtet, den produzierten Strom zu einem gesetzlich festgelegten Preis abzunehmen – wie im Übrigen auch bei der Solarenergie. Staatlich subventioniert sozusagen. Wissen Sie, das ist alles recht und gut, aber eine kontinuierliche Versorgung kriegen Sie damit nicht zustande. Der Wind bläst eben nicht ständig, zumindest nicht in unseren topografischen Lagen. Das mag an der Küste anders sein. Stichwort: Offshore, also Anlagen, die im Meer stehen. Wir könnten zwar mit der Leistung der bei uns stehenden Rotoren rein theoretisch an einem normalen Tag weit mehr als die Hälfte unseres Strombedarfs abdecken – aber eben nur theoretisch, wenn der Wind kontinuierlich und optimal blasen würde. Aber das tut er natürlich nicht.«
Häberles Interesse stieg. Er hätte sich gerne noch länger über dieses Thema unterhalten, spürte jedoch die Ungeduld in sich, die ihn zur Eile drängte. Denn er brauchte möglichst schnell die Gewissheit, ob der Tote tatsächlich dieser Büttner war. »Noch eine letzte Frage«, sagte er deshalb und stand auf, während Bodling dies auch tat. »Vorletzte Woche sollen Monteure von Ihnen an diesem See da draußen gewesen sein.«
Bodling stutzte. »Monteure? Das wäre mir neu.«
»Ja, Monteure.« Häberle sah in unsicher gewordene Augen. »Wir haben einen Zeugen, der will sie beobachtet haben – an einem Hochspannungsmast.«
»Ach, das meinen Sie«, entgegnete Bodling
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