Kurzschluss
gegenüberliegenden Gebäudes. Hier im Rorgensteig, einer kleinen Ansiedlung am Stadtrand, gleich unterhalb des Friedhofs, schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Und seit er arbeitslos geworden war, wurde ihm jeden Tag aufs Neue mehr bewusst, dass diese Umgebung ganz und gar nicht dazu angetan war, sein Wohlbefinden zu steigern.
»Du sollst nicht immer nur aus dem Fenster starren«, hörte er plötzlich die keifende Stimme seiner Frau hinter sich, die den Verkehrslagebericht des Radiomoderators übertönte.
Speidel sog den herben Qualm seiner Zigarette tief in die Lungen, wohl wissend, dass jeder einzelne dieser Züge verheerende Spätfolgen haben würde, und drehte sich langsam um. »Du sollst mich nicht immer maßregeln«, gab er genervt zurück, während Roswitha, seine Frau, einen Stapel Zeitschriften der Regenbogenpresse auf den gläsernen Couchtisch warf und sich in einen abgegriffenen Sessel fallen ließ. Sie schlug die Beine, die in enge Jeans gezwängt waren, übereinander und rückte ihre Brille zurecht. »Haben sie denn im Radio gesagt, wer der Tote ist?«
Speidel inhalierte den Rauch, wie dies nur ein Süchtiger tun kann, der gegen alle Warnhinweise auf die lebensgefährlichen Risiken resistent war. »Bisher nicht, nein. Um ehrlich zu sein, ist mir das auch egal.«
»Ich hoffe, du wirst in nichts reingezogen«, sagte Roswitha, doch es klang so, als ob ihr Interesse an der Sache nicht sonderlich groß war. Um diesen Eindruck zu bekräftigen, begann sie, in einer Zeitschrift zu blättern.
»Wieso sollte ich in etwas reingezogen werden? Ich hab den Kerl dort liegen sehen und es diesem Naturschützer gemeldet.«
»Wieso eigentlich dem? Und wieso hast du nicht selbst die Polizei gerufen?« Sie würdigte ihn keines Blickes, sondern besah sich die Bilder auf einer bunten Doppelseite. »War dein Handy mal wieder nicht geladen?«
Speidel entschied sich dafür, diese Provokation zu überhören. Seit er meist nutzlos zu Hause herumsaß, aus dem Fenster stierte oder zum wiederholten Mal im Internet nach einem Job suchte, spürte er, wie sie sich gegenseitig auf die Nerven gingen. Manchmal bedurfte es nur eines einzigen Wortes, um die gereizte Stimmung wie ein Pulverfass explodieren zu lassen. Dann war es Zeit, sich in den kleinen Vorgarten zu verziehen, wo er im Herbst damit begonnen hatte, eine kleine Böschung mit Natursteinen abzustützen.
Wieder ließ er den krebserregenden Rauch rau und doch so angenehm durch seine Atemwege ziehen, die nach all den Tausenden von Zigaretten vermutlich schlimmer aussahen als der Schlot einer Fabrikanlage aus dem vorletzten Jahrhundert. »Ich hab den Braun nebenan auf der Aussichtsplattform stehen sehen«, sagte er langsam. »Und wenn du eine Leiche findest, dann bist du ziemlich froh, jemanden bei dir zu haben.«
Seine Frau nickte, ohne aufzusehen. Sie befeuchtete sich den Zeigefinger der rechten Hand und blätterte weiter. »Du bist in letzter Zeit oft da rausgegangen«, stellte sie vorwurfsvoll fest.
Er drückte die Kippe in den Aschenbecher und räusperte sich. »Was heißt das, oft da rausgegangen? Wohin soll ich von hier aus schon gehen? Vielleicht runter in die Stadt, um mir dauernd irgendwelche Dinge anzuschauen, die wir uns nicht mehr leisten können?« Er musste sich zurückhalten. Nein, provozieren ließ er sich heute nicht. »Oder soll ich über den Friedhof spazieren?«
»Entschuldige.« Endlich sah sie ihn mit ihren großen blauen Augen an. Ihre braunen Haare waren frisch geschnitten. Sie wirkt richtig jugendlich, dachte er. Auch wenn der Alkohol Spuren hinterlassen hat. »Sei nicht gleich eingeschnappt«, gab sie sich versöhnlich. »Es ist doch kein Vorwurf. Ich mein nur, dass du in letzter Zeit oft da draußen warst – ist ja auch nichts Schlimmes.«
»Solange du damit nicht sagen willst, dass ich den Kerl ersäuft hab …« Er unterdrückte ein Grinsen.
»Also bitte! Das ist doch völliger Quatsch.«
»Wieso denn? Vielleicht ist der Tote einer von diesen Arroganzlingen, die sich in den Betrieben aufspielen, als hätten wir noch tiefstes 19. Jahrhundert. Kapitalismus aus der Gründerzeit in Vollendung.«
Sie zögerte. Wenn Arthur so daherredete, konnte er emotional und aufbrausend werden. »Das würd ich dir einfach nicht zutrauen«, sagte sie mit gekünsteltem Lächeln.
»Was nicht zutrauen?«
»Dass du einen umbringst.«
»Meist tun es die, denen man es am wenigsten zutraut«, gab er sachlich zurück und kämpfte mit seinem inneren
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