Kuschelmuschel
einfach erreichen musste. Mit Venen war es nicht getan. Das gab nur ein furchtbares Geblute, führte aber am Ende zu nichts. Außerdem war es gar nicht so leicht, eine Rasierklinge zu halten - jedenfalls nicht, wenn man einen energischen Schnitt machen, sie geradewegs ganz tief hindurchziehen wollte. Aber sie würde es richtig machen. Die, denen der Selbstmordversuch misslang, wollten im Grunde ja, dass er misslang. Sie dagegen meinte es ernst.
Sie ging zum Medizinschränkchen im Badezimmer und suchte nach Rasierklingen. Sie fand nicht eine einzige, obwohl nicht nur ihr eigener, sondern auch Eds Rasierapparat noch da waren. Aber in keinem steckte eine Klinge, und die kleinen Päckchen daneben waren auch verschwunden. Nun ja, das war verständlich. Derartige Dinge waren damals aus gutem Grund aus dem Haus entfernt worden. Aber das spielte keine Rolle. Sie konnte sich jederzeit neue Rasierklingen kaufen.
Anna kehrte in die Küche zurück und nahm den Kalender von der Wand. Sie wählte ein Datum - den 23. September, Eds Geburtstag - und schrieb Rk (für Rasierklingen) auf das Blatt. Jetzt war der 9. September. Sie hatte also vierzehn Tage Zeit, um ihre Angelegenheiten zu ordnen. Es war noch eine Menge zu tun: Rechnungen bezahlen, ein neues Testament schreiben, das ganze Haus putzen, Billys Collegegeld für die nächsten vier Jahre anweisen, Briefe an ihre Kinder, ihre eigenen Eltern und Eds Mutter schreiben, und so weiter und so fort.
Aber wenn sie auch noch so fleißig war - die vierzehn Tage erschienen ihr unendlich lang. Sie sehnte sich danach, die Klinge anzusetzen, und zählte jeden Morgen nach dem Aufwachen die Tage, die sie noch überstehen musste, als wäre sie ein Kind, das auf Weihnachten wartet. Wo immer sich Ed Cooper jetzt, nach seinem Tod, auch befinden mochte, sie wollte ihm rasch folgen, und sei es auch nur ins Grab.
Mitten während dieser zweiwöchigen Wartezeit jedoch bekam sie eines Morgens um halb neun Uhr Besuch von ihrer Freundin Elizabeth Paoletti. Anna machte sich in der Küche gerade Kaffee. Sie zuckte zusammen, als es klingelte, und zuckte noch einmal zusammen, als es ein zweites Mal energischer klingelte.
Liz kam ins Haus gestürzt und redete wie immer ohne Unterlass. «Anna, sei ein Schatz, du musst mir unbedingt helfen! Bei uns im Büro haben alle die Grippe. Du musst einfach mitkommen! Keine Widerrede! Ich weiß, dass du maschineschreiben kannst und nichts anderes zu tun hast, als hier herumzusitzen und Trübsal zu blasen. Also nimm deinen Hut und deine Handtasche. Beeil dich, Mädchen! Los, mach schnell! Ich komme sowieso schon viel zu spät! »
«Lass mich in Ruhe», sagte Anna. «Geh, Liz! »
«Das Taxi wartet», drängte Liz.
«Bitte! », sagte Anna. «Zwing mich nicht. Ich komme nicht mit. »
«Doch, du kommst», antwortete Liz. «Reiß dich zusammen. Anna! Deine Tage als Märtyrerin sind vorüber. »
Anna weigerte sich standhaft, aber Liz setzte sich durch, und zum Schluss erklärte Anna sich einverstanden. Sie würde mitkommen, aber nur für einige Stunden.
Elizabeth Paoletti leitete eine Gesellschaft für Adoptionen, eine der besten in der ganzen Stadt. Neun ihrer Angestellten lagen mit Grippe im Bett, und außer ihr waren nur noch zwei im Büro. «Du hast zwar keine Ahnung von unserer Arbeit», erklärte sie Anna im Taxi, «aber du hilfst uns eben, soweit du kannst. »
Im Büro ging es zu wie in einem Tollhaus. Allein die Telefone machten Anna ganz krank. Sie rannte ständig von einem Apparat zum anderen, um Mitteilungen entgegenzunehmen, deren Sinn sie nicht verstand. Und dann die Mädchen draußen im Wartezimmer: junge Mädchen mit aschgrauen, versteinerten Gesichtern, deren Aussagen sie mit der Schreibmaschine auf ein offizielles Formular übertragen musste.
«Name des Vaters? »
«Weiß ich nicht. »
«Das wissen Sie nicht? »
«Was hat der Vater damit zu tun? »
«Meine Liebe, wenn der Vater bekannt ist, dann muss er sein Einverständnis geben, bevor wir das Kind zur Adoption freigeben können. »
«Keine Angst, er ist nicht bekannt. »
«Sind Sie sich da auch ganz sicher? »
«Himmel, ich hab's Ihnen doch gesagt, oder nicht? »
Um die Mittagszeit brachte ihr irgend jemand ein Sandwich, aber sie hatte keine Zeit, etwas zu essen. Um neun Uhr abends wankte Anna erschöpft, hungrig und tief erschüttert über die traurigen Erfahrungen, die ihr der Tag vermittelt hatte, nach Hause, machte sich
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